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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

17. 5. 2009 - 18:54

French Collection

Ein Streifzug durch Cannes: Ang Lee sucht junge Menschen mit Schamhaaren. Und ich finde das erste Meisterwerk des Festivals

Das Filmfestival von Cannes auf fm4.orf.at

  • Tanz der Elefanten: Eine Liebeserklärung. Eine Hasstirade. Ein Überblick. Eine Resignation. (12.5.)
  • Luft for Life: Die ersten Tage in Cannes: Greisen gehen in die Luft, Gummipuppen spazieren durch Japan. (15.5.)
  • French Collection: Ein Streifzug durch Cannes: Ang Lee sucht junge Menschen mit Schamhaaren. Und ich finde das erste Meisterwerk des Festivals (17.5.)
  • festival-cannes.fr

Letztens sitze ich in einem kleinen Cannes-Kino, dem Palais K "Bory", warte auf die Markt-Vorführung von Jacques Audiards viel diskutiertem Gefängnisfilm Un prophète (im Wettbewerb), freue mich, dass ich mich an den Zerberus-artigen Einlassreglern vorbei schwindeln habe können, als mich von links ein junger US-"Buyer" (an der Croisette, um zu verhandeln und zu kaufen) hysterisch anspricht: "Have you seen my Blackberry?" Schon glücklich, dass ich nicht wieder meine kläglichen Französischkenntnisse ausgraben muss, lächele ich ihm ein "No!" entgegen, woraufhin er beginnt, zwischen den Reihen des Kinos herumzukriechen, andere Wartende davon zu überzeugen dasselbe zu tun, schließlich sich selbst von einem Mobiltelefon aus anruft und zum - surrealen - Schluss kommt: "Your seat ate my mobile!"

Hyped to Death

Un Prophet

Cannes

Un Prophète

Gut, sitze ich also mit meinem filmfestivalwunden Arsch auf dem Blackberry dieses US-Shoppers, und finde bald Gutes daran, da ich nun zumindest ihn daran gehindert habe, "Un Prophète", den momentanen Hypefilm in Cannes, einzukaufen. Es ist lange her, dass ich mich im Kino so gelangweilt habe, und das kommt von jemanden der zweistündige Landschaftsfilme als Seelenberuhigung begreift: nein, Jacques Audiard (man kennt ihn von seinem öden "Fingers"-Remake: The Beat That Skipped My Heart) hat keinen langsamen, kontemplativen, sondern einen vordergründig schnellen, in mobilen Shake-Bildern eingefangenen Film gedreht, erzählt eigentlich ein gute, eine feiste Geschichte.

Vom jungen Araber Malik, der zu sechs Jahren Knast verurteilt wird, im Häfn zuerst für die korsische Mafia einen Mord begeht, schließlich aber eigene Ambitionen entwickelt und versucht, ein Drogenkonglomo aufzubauen. Ein Grand Seigneur des französischen Kinos, Niels Arestrup, gibt im Übrigen den großen Korsen mit nikotingelbem Haar und Fünftagesbart. Die Zutaten stimmen, die Inszenierung nicht: anstatt sich auf die Charakterwandlung von Malik zu konzentrieren, verstopft Audiard seinen Film mit über einem dutzend Erzählvignetten von kleinen Morden unter Freunden und anderen Coups, wo doch bei solchen Machtfolgefilmen immer nur das eine interessiert: wie der Junge den Alten zur Strecke bringt.

Eine Hippie-Invasion

Taking Woodstock

Cannes

Taking Woodstock

Von einer Generationsablöse erzählt auch - irgendwie jedenfalls - Ang Lees drogenrauschiger Epochenfilm Taking Woodstock, der sich zwar vordergründig auf das mythenumwobene Musikfestival stützt, eigentlich aber - sehr zärtlich, jawoll - vom emotionalen und sexuellen Erwachen des Biederbubs Elliot (Schauspiel-Newcomer und SNL-Autor Demetri Martin) erzählt.

Als Vorsitzender der Chamber of Commerce seines Hundertseelen-Heimatorts Bethel gelingt ihm zufällig ein Jahrhundertcoup im Anlocken des Woodstock-Organsationskommitees: das Washingtoner Hinterland wird also im Sommer des Jahres 69 von abertausenden Hippies okkupiert. Ang Lee nimmt das Musikfestival nur als Hintergrund und Motivationshilfe für diesen Elliot, aus seinem familiären Nest auszubrechen, seine Homosexualität zuzulassen und im Acid-Trip über die knatterbunten Wiesen zu fliegen.

Der in Taiwan geborene Regisseur hatte merkliche Freude an diesem Thema, hat Lust auf eine Komödie, die er mit haufenweise grotesken Figuren bestückt. Meine Top 3: Imelda Staunton als Elliots untersetzte, grauhaarige, konstant fluchende, misstrauische Mutter, die fickende Hippies mit Holzstöcken aus dem Unterholz scheucht. Emile Hirsch als Kriegsheimkehrer, der sich von paranoiden Wahnvorstellungen geplagt im Dickicht versteckt, letzendlich vom spirit of happiness ergriffen alle Klamotten von sich reißt und mit den anderen Nackten tanzt. Vor allem aber Liev Schreiber als vollkommen unaffektierter, muskelbepackter, lakonischer Ex-Koreasoldat, nunmehriger Transvestit Wilma, der sich mit einer Sicherheitsfirma selbstständig gemacht hat. Herr Lee war im Übrigen, trotz Ankunft in der vermutlich unbekifftesten Stadt der Welt, also Cannes, äußert gut gelaunt, wusste auch zu berichten von den größten Schwierigkeiten während der Produktion: die da waren, dünne Jungmenschen mit Schambehaarung zu finden. Heute ist ja jeder rasiert. Bäh.

Von Vampiren

Mother

Cannes

Mother

Momentan - wie fast in jedem Jahr - glücksverheißend bei diesem Festival ist das asiatische Kino, mit Ausnahme des total überschätzten Saftsacks Park Chan-wook (Oldboy), dessen unerträglichen Vampirfilm Thirst ich nach dreißig Minuten fluchend hinter mir gelassen habe. Seine koreanischen Landsmänner haben es nicht nur besser, sondern gleich hervorragend gemacht: Bong Joo-ho, im Westen vor allem mit seinem Monster-Movie The Host bekannt geworden, obwohl es sein uninteressantester Film ist, erzählt in Mother die Geschichte eines psychisch herausgeforderten Teenagers, der für den Mord an einer Gleichaltrigen ins Gefängnis gesteckt wird. Zu Unrecht, meint seine Mutter, verlässt ihren Kräuterladen und wird investivativ tätig: was nicht nur überraschende Erkenntnisse zeitigt, sondern vor allem zu einer intelligenten, überzeugenden Aufstellung der südkoreanischen Familie und ihrer Krankheiten wird. Denn für das auf Sauberkeit und Sterilität ausgerichtete (Rechts-)System ist der "abnormale" Junge ein bequemer Verdächtiger, für seine Mutter ist er ein Engel. Die Wahrheit wird auch im Bongs Kino der Monstren und anderer Unangepasster irgendwo dazwischen liegen.

Vom Kino

Amüsanter gestaltet sich Meister Hong Sang-soos jüngste Selbsterkenntnisreise Like You Know It All: er erzäht von einem mittelmäßig erfolgreichen, mittelmäßig einflussreichen Arthouse-Regisseur, der davon träumt aus den Programmkinos auszubrechen, dann aber doch als Jurymitglied zu einem obskuren Filmfestival fährt, dort in den Filmvorführungen einschläft und sich abends so volllaufen lässt, dass er sich (der Zuschauer im übrigen ebensowenig) am Morgen danach an nichts mehr erinnern kann. Hong spielt mit sich selbst, mit Eigen- und Fremdwahrnehmungen, mit seinen in sich ruhenden Trademark-Figuren und mit dem Kino an sich und liefert einen hochgradig entspannten und entspannenden, unprätentiösen Film ab.

Von Rache

Vengeance

Cannes

Vengeance

Den Meisterwerksalarm muss ich bisher erst für einen Film der 62. Filmfestspiele von Cannes betätigen: Hong Kong-Genrerevolutionär Johnnie To liefert mit seinem Wettbewerbsfilm Vengeance vielleicht die beste Arbeit seiner bisherigen Karriere, jedenfalls aber seinen lässigsten Film seit Election ab. Das liegt zum einen an der Besetzung: Frankreichs Elvis Presley Johnny Hallyday gibt darin einen Pariser "Chef" in Burberry-Trench, mit Hut und Spitzbart, der mit drei chinesischen Profikillern (darunter die Schauspielgötter aus dem To-Ensemble Anthony Wong Chau-Sang und Lam Suet) auf einen Rachefeldzug geht. Sein Problem: da ihm eine Kugel ins Hirn geschossen wurde, leidet er unter einen seltenen Form der Teilzeitamnesie, vergisst also immer wieder, weswegen er schießend durch die Straßen zieht (weil die Familie seiner Tochter, gespielt von Sylvie Testud ermordet worden ist), steht schon mal im verwirrt, selig im Kugelhagel. "Vengeance" ist aber vor allem eine brillant inszenierte Variation auf den (besonders in Hong Kong verehrten) Spaghetti-Western, gegossen in famose Bilder, gipfelnd in drei genialen Shoot Out-Sequenzen: eine davon in einem Waldstück im Vollmondlicht, eine auf einer Müllhalde. Ein Film, so perfekt, dass ich am liebsten weinen möchte.

Ja, auch das kann Cannes. Mich so weit bringen, dass ich auf der Terrasse des Palais du Festival stehe, mit nassen Augen, wissen, dass da gerade was Besonderes passiert ist, etwas, das tief in mich geschossen ist, mich bewegt, aufgewühlt, amüsiert hat. Ich bin in Ekstase. Ich bin glücklich.

Hoffentlich bleibt das so: es kommen noch Filme von Quentin Tarantino, Lars von Trier, Gaspar Noe, Michael Haneke und Sam Raimi.