Erstellt am: 15. 5. 2009 - 12:36 Uhr
Luft for Life
Das Filmfestival von Cannes auf fm4.orf.at
- Tanz der Elefanten: Eine Liebeserklärung. Eine Hasstirade. Ein Überblick. Eine Resignation. (12.5.)
- Luft for Life: Die ersten Tage in Cannes: Greisen gehen in die Luft, Gummipuppen spazieren durch Japan. (15.5.)
- festival-cannes.fr
Eine Vogelfeder liegt auf meiner Terrasse. Ich meine dann immer, das Vieh muss krank gewesen sein, wie es sie verloren hat. Ich bin ja für alles Abgefallene oder achtlos Weggeworfene dankbar hier in Cannes, wo sonst alles so nahtlos ineinander greifen, funkeln und funktionieren muss. Es erinnert daran, wie künstlich diese aufgebaute Welt ist, durch die man sich annähernd zwei Wochen lang schiebt. Vulgär wird mit echten oder erfundenen Reichtümern geprotzt, die Designer-Roben und sündteuren Accessoires, die Luxuskarossen und Diamantencolliers schieben sich im Minutentakt an mir vorbei. Einmal um die Ecke gegangen, nicht einmal eine Gehminute entfernt vom Palais du Festival hockt eine Frau mit ihrem Kind auf der Straße. Gefühlt wird hier nur im Kino.
Hoch mit der Stimmung!
„Up!“ ist das Credo von Cannes in diesem Jahr: der Krise ins Gesicht blicken, Rezepte zum Überleben vorstellen, Lösungen vorschlagen. Eröffnet wurde zum ersten Mal in der Geschichte des Festivals mit einem Animationsfilm: der heißt auch Up (der unglücklich gewählte deutsche Verleihtitel ist: „Oben“ und nicht „Hinauf“) und erzählt – tricktechnisch solide, immerhin ist das eine Pixar-Produktion – von einem 78-jährigen Grantscherben namens Fredricksen, der sich nach dem Tod seiner geliebten Frau aufmacht zum größten, und vermutlich letzten Abenteuer seines Lebens: mit zehntausenden Luftballons, die er an seinem kleinen Eigenheim, angefüllt mit sorgfältig konservierten Erinnerungen, befestigt, fliegt er in den Himmel, dann gen Südamerika, den „Paradise Falls“ entgegen, von denen er fantasiert und träumt seit er ein kleiner Junge war.
Pixar
Regisseur Pete Docter (Monsters Inc.) erzählt kinderfreundlich mit schrulligen Nebenfiguren (wie etwa den Paradiesvogel „Kevin“ oder den Tex Avery Hommage-Hund „Dug“), lässt „Up“ aber nicht zum rein familienfreundlichen Merchandising-Entertainment verkommen, setzt auf gute Charaktere und starke Leitmotive. „Up“ ist der erste Film in Disney Digital 3D, funktioniert als solcher auch hervorragend, verursacht jedenfalls keine Kopfschmerzen. Ob der Dimensionssprung allerdings das Patentrezept ist, um den sich radikal verändernden Sehgewohnheiten eines immer autarker werdenden Publikums zu begegnen, sei dahin gestellt. In den Fünfziger-Jahren waren die knatterbunten 3D-Produktionen noch die Antwort auf den Besucherschwund durch das Aufkommen des neuen Mediums Fernsehens, Anfang der 80er sorgte der aufblühende Heimvideomarkt für eine Renaissance.
Neue Paten
In Cannes sind Umbrüche und Paradigmen-Wechsel innerhalb der Industrie am frühesten und am direktesten zu spüren. Während man im offiziellen Programm mit Produktionen wie „Up“ in die Spektakelkurve geschickt wird, zeigt die als Antwort auf die 68er-Zäsur (in dem Jahr wurde das Filmfestival von Cannes abgebrochen, nachdem zu Demonstrationen kam und Ausschreitungen befürchtet wurden) gegründete Quinzaine des Réalisateurs andere, exotischere Wege und Neuorientierungen. Was verbindet man mit Francis Ford Coppola? Manisches, meisterhaftes Erzählkino, Marlon Brando, den Paten, Apokalypsen, The Doors, Dracula, ein Weingut in Kalifornien.
Cannes
Und jetzt: Tetro. Der US-Regisseur inszeniert Vincent Gallo als Queraussteiger und Vaterhasser, der sich im schwarz-weißen Buenos Aires im Zimmer einsperrt, bis ihn sein 17-jähriger Bruder Bennie (Newcomer Alden Ehrenreich) gewaltsam, sozusagen, aus der Lethargie befreit. Hoffmanns Erzählungen der britischen Regieduo-Giganten Powell/Pressburger erweisen sich als Zentralgerüst für Coppolas Tour de Force durch Künstlerbiografien und biografische Kunst, es wird getanzt, gesungen, gelacht, geschrien, geweint, geschlagen, getrunken, gefickt und geschlafen. Eine gescheiterte, aber zumindest streckenweise sehr unterhaltsame (nicht zuletzt aufgrund von Klaus Maria Brandauer in einer Doppelrolle) Neuerfindung des strauchelnden Giganten FFC als „independent filmmaker“.
Die Anmut der Marionetten
Cannes
In einer Sequenze von Hoffmanns Erzählungen werden eine tanzenden Puppe nach und nach sämtliche Glieder vom Rumpf gerissen: feeling with inanimate objects. Eine außergewöhnliche, spannende und entspannte Variation auf dieses Thema serviert Kore-eda Hirokazu, einer der aufregendsten japanischen Regisseure der Gegenwart, den man in Österreich wohl vor allem aufgrund seines Kinderdramas Nobody Knows (2004) kennt. In Air Doll erzählt er das Märchen von der Gummipuppe Nozomi, im Besitz eines Mann mittleren Alters, der oft mit ihr Liebe macht, später den Vaginaleinsatz mit Seifenlauge ausspült. Eines Tages ist er außer Haus, Nozomi steht auf, geht zum Fenster: ein Regentropfen fällt auf die Plastikhände. Das Sex Toy erwacht zum Leben, findet ein Herz, wandert durch ein von Einsamkeit, Isolation und Traurigkeit geprägtes Gegenwartsjapan.
Kore-eda liebt seine Figuren, gibt sie nie der Lächerlichkeit Preis. Anmutig und voller Würde ist die Gummipuppe und sind auch die anderen Verlorenen, denen sie begegnet. Die Messie-Frau, die Nahrungsmittel in sich hinein stopft. Die ältere Dame, die Polizisten davon überzeugen will, dass sie ihren Mann ermordet hat. Der Jugendliche, der sich an Schulmädchenuniformen aufgeilt. Alles Gummipuppen: ich denke an eine Novelle von Heinrich von Kleist, die ich vor langer Zeit gelesen habe, die mich ungemein beeindruckt hat: darin erzählt er von der natürlichen, angeborenen Unschuldigkeit und Anmut des Menschen, die er in dem Moment verliert, in dem er sich zum ersten Mal selbst im Spiegel sieht, sich selbst bewusst wird. Nozomi fehlt dieses Bewusstsein, wie ein Kunstmensch, eine Tin Woman fehlen ihr Erfahrungen, erfahrene Gefühle um das Drumherum konventionell zu beurteilen. Irgendwann trifft sie dann auch auf ihren Schöpfer, den Puppenbauer, der sie fragt, ob sie denn auch etwas Schönes in dieser Welt gesehen hätte: sie nickt und geht weiter, lässt sich von ihrem boyfriend aufblasen, wenn ihr mal wieder die Luft ausgegangen ist.
Wir stehen erst am Anfang: es kommen noch Filme von Gondry bis Lee, von Tarantino bis De Van. Geschichten werden gemacht. Es geht voran.