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14. 3. 2017 - 18:06

Lasst uns reden!

Warum die Debatte um die Auftrittsverbote türkischer Politiker_innen auch eine Chance für die Demokratisierung ist - hier wie dort.

Porträt von Can Gülcü

Caritas Wien

Can Gülcü ist Kulturschaffender und Aktivist, ehemaliger Co-Leiter von WIENWOCHE und der Shedhalle Zürich, Lehrbeauftragter an der Universität Graz und Vorstandsmitglied von SOS Mitmensch, von Radio Orange 94.0 und der Initiative Vielmehr für Alle.

von Can Gülcü

Eines muss man Recep Tayyip Erdoğan und seiner AKP lassen. Es scheint seit einigen Tagen, dass alle Probleme der Welt sich gemeinsam entschieden hätten, einem den Vorrang zu lassen: dem Wahlkampf in der Türkei und der Frage, wie europäische Regierungen auf Wahlkampfveranstaltungen türkischer Politiker_innen in ihren Ländern reagieren sollten. Erdoğan brüllt „Nazi!“ und der Krieg in Syrien, die Hungerkatastrophe in Ostafrika, andere Wahlkämpfe und Regierungskrisen allerorts sagen unisono: „Ok, ok, wir warten“.

Nicht einmal dem orangen amerikanischen Präsidenten gelingt es, in den europäischen Nachrichten zu reüssieren, wichtiger scheint, dass ein paar Aktivist_innen der AKP-Jugend aus Protest gegen die Niederlande rituell Orangen schlachten und ausquetschen.



Damit gelang dem türkischen Präsidenten, seiner Partei und allen in der Türkei sowie im Ausland, offen wie geheim in seinen Diensten, operierenden Organisationen ein Coup: die erste vollständige Transnationalisierung eines nationalen Wahlkampfs. Sozusagen der erste „totale Wahlkampf“.

Dabei geht es im Wahlkampf um keine transnationale Frage an sich, auch wenn die Transformation des türkischen Staates in eine Präsidialdemokratie, wie die am kommenden 16. April zur Volksabstimmung stehende Verfassungsänderung vorsieht, gerade unter einem autokratisch handelnden Politiker wie Erdoğan natürlich weitreichendere Folgen hat als nur für die Türkei selbst.

Die Macht, der Präsident und die neue Verfassung

FM4 Auf Laut – Kontroverse um türkischen Wahlkampf in Europa

Ausländische Wahlveranstaltungen verbieten? Wie verträgt sich das mit der Versammlungs- und Meinungsfreiheit?

Claus Pirschner diskutiert darüber am in FM4 Auf Laut am 14. März ab 21:00 mit Gästen und AnruferInnen.

0800 226 996 - die Nummer ins Studio

Die Verfassungsänderung beinhaltet insgesamt 18 Vorschläge zur Änderung der seit 1982 gültigen „Putschverfassung“. Neben der Erhöhung der Parlamentssitze von 550 auf 600 und der Senkung des passiven Wahlalters von 25 auf 18 Jahre betreffen die meisten Punkte die Beschränkung der Rechte des Parlaments und der Regierung bzw. ihre Übertragung auf den Präsidenten, der alle fünf Jahre vom Volk gewählt werden soll.

Dieser Präsident wäre – angenommen, die AKP gewänne die Abstimmung – in der Lage, das Land per Verordnungen zu regieren, das Parlament nach eigenem Gutdünken jederzeit aufzulösen, Minister ohne Parlamentsanhörung einzusetzen, persönlich über die Wahl der Universitätsrektoren zu entscheiden oder die Zusammensetzung von Gremien zu kontrollieren, zu deren Aufgabe wiederum die Kontrolle des Präsidenten zählt.

Die Änderungen bedeuteten schlicht die Abschaffung der ersten türkischen Republik von Mustafa Kemal Atatürk sowie die Umwandlung des türkischen Staates in eine „Zweite Republik“. Dabei war das Präsidialsystem seit den 1980er Jahren immer wieder Thema politischer Debatten, nur eben nicht, während das Land von einem Politiker wie Erdoğan regiert wurde, der somit sein de facto „Ein-Mann-Regime“ legalisieren würde.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan übt bei einer Rede in Istanbul am 12. März 2017 scharfe Kritik an den Niederlanden.

OZAN KOSE / AFP

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan übt bei einer Rede in Istanbul am 12. März 2017 scharfe Kritik an der Niederlande, nachdem diese eine türkische Ministerin des Landes verwiesen hatte.

Auch wenn man gerade das Gefühl hat, die Art und Weise, wie die AKP ihren Wahlkampf anlegt, käme in dieser Form überraschend und die Schärfe der Aussagen von Erdoğan und anderen türkischen Politiker_innen wären die Folge spontaner Wutausbrüche und mindestens Zeichen eines sich schleichenden Wahnsinns: Angesichts der Situation in der Türkei sind sie nicht besonders verwunderlich, eigentlich sind sie geradezu logisch. Oder um es ganz banal zu sagen: Erdoğan und die AKP haben gerade nichts anderes anzubieten als blanken Nationalismus.

Die Grundidee eines jeden Wahlkampfs der AKP seit ihrer Gründung war die Selbstdarstellung als Anti-Establishment-Partei, als Bewegung des „kleinen Mannes“, der sich gegen die Ungerechtigkeiten des (kemalistischen) Regimes wehrt. Erdoğan war die perfekte Figur des Aufsteigers, der idealtypische Durchschnittstürke, der sich trotz aller Widrigkeiten gegen die weltfremden Eliten durchsetzt, sagt, was ist und das so, dass es jedes kleine Kind in der Türkei versteht.

Das „Brudi von nebenan“-Dilemma der AKP

Während der langen Jahre einigermaßen stabiler politischer Verhältnisse, der wachsenden Wirtschaft und günstigen Haushaltskredite bis ca. 2009 ging das gut, aber diese Zeiten sind vorbei – und das nicht erst seit dem gescheiterten Putschversuch letzten Jahres, wie die AKP und ihre Lobbyisten im In- und Ausland unentwegt wiederholen.

Die türkische Wirtschaft ist in der Krise, die Arbeitslosigkeit und Insolvenzen von Privathaushalten wie Unternehmen steigen, die politische Stabilität wurde von Erdoğan spätestens 2015 vollends der eigenen Machterhaltung geopfert und der Traum einer osmanischen Renaissance platzte durch das Versagen der türkischen Außenpolitik im Syrienkrieg. Um es wieder auf die Figur Erdoğan herunter zu brechen: Es ist nicht gerade leicht, einen Politiker, der seit 15 Jahren mit absoluter Macht regiert und mittlerweile aus seinem 280 Millionen Euro teuren Palast mit 1000 Zimmern nur mehr brüllt statt zu sprechen, weiterhin als „Brudi von nebenan“ zu inszenieren.

So kam es, dass das „Schlachtfeld“ Nationalismus ausgeweitet werden musste. Es hatte maßgeblich zum Erfolg der AKP bei den Parlamentswahlen 2015 beigetragen, nachdem sie nach dem Verlust der absoluten Macht im ersten Versuch noch vor der erneuten Wahl einen Krieg in den kurdischen Gebieten losgetreten hatte.

Überraschend für die AKP mag gewesen sein, dass die eigene Nacherzählung des gescheiterten Putschversuchs des letzten Sommers und die darauffolgende „Säuberung“ des Landes von all denjenigen, die sich nicht in diese Erzählung einfügen wollten, nicht die gewünschte Dynamik in ihren Wahlkampf brachte. Die Umfragen sehen schlecht aus – und das trotz aller Repression, trotz der Gleichschaltung der Medien und trotz der Mobilisierung aller verfügbaren Kräfte.

Da ein zweites Mal Krieg im eigenen Land in einer Zeit der Krise, in der sich die meisten Menschen nach Stabilität und Ruhe sehnen, ziemlich kontraproduktiv sein dürfte, musste der nationale „Kriegszustand“ woandershin ausgeweitet werden. So haben wir nun den Salat auch hier bei uns.

Die AKP hat relativ früh erkannt, dass die im Ausland lebenden Türkeistämmigen nicht nur als Wahlvolk eine wichtige Rolle spielen. Sie hat sie – viel mehr als alle türkischen Regierungen zuvor – als Faktor ihrer Außenpolitik aufgefasst und dementsprechend in sie „investiert“.

Die Förderung der aus der Türkei gelenkten Moscheeverbände als Organe ihrer „Community-Arbeit“, wie die ATIB in Österreich oder DITIB in Deutschland, sowie der Aufbau von Lobbyorganisationen wie der UETD, die neben der „Community“-internen Organisationsarbeit vor allem auch eine parallele, vermeintlich parteiunabhängige außenpolitische Vertretung übernahm, sind nicht zufällig maßgebliche Akteurinnen der aktuellen Konfliktsituation. So ist es nicht verwunderlich, dass die UETD gleichzeitig als Vertretung (in Selbstbehauptung natürlich fast aller) hierzulande lebenden Türkeistämmigen in öffentlichen Debatten teilnimmt und im Hintergrund die Auftritte türkischer Politiker_innen und den Protest gegen die Auftrittsverbote organisiert.

Wie soll man damit umgehen? Verbote der Wahlkampfaufritte, ja oder nein? Die Frage hat – bei allem Verständnis für die akute krisenhafte Situation, die Entscheidungen fordert – eine weitere Dimension, die ein Licht auf die Verfasstheit hiesiger Gesellschaften wirft und auch auf die Schwierigkeit der Parteien der politischen Mitte mit grundsätzlichen Problemen ebendieser Verfasstheit umzugehen.

DemonstrantInnen mit türkischen Fahnen vor dem türkischen Konsulat in Rotterdam.

Marten van Dijl / ANP / AFP

DemonstrantInnen mit türkischen Fahnen vor dem türkischen Konsulat in Rotterdam.

Das Problem mit dem politischen Subjekt „Ausländer“

Es kommt nicht von ungefähr, dass in dieser Suche der europäischen Regierungen nach einem Umgang mit der türkischen Regierung und deren Versuch, einen auf Provokationen und Polarisierung setzenden Wahlkampf aus rein strategischen Gründen auf europäischem Boden zu führen, Stimmen laut werden. Und zwar von sowohl rechten als auch von vermeintlich liberalen und sich als Linke begreifenden Akteur_innen, die in Richtung hierlebender Türkeistämmiger Forderungen formulieren, wie: „Wenn euch Erdoğan so gut gefällt, dann lebt doch in der Türkei“.

Man könnte sich mit politischen und gesellschaftlichen Ursachen der Haltungen hier lebender Migrant_innen auseinandersetzen, auch wenn diese im Einzelnen manchmal schwer nachvollziehbar erscheinen. Aber hier leben, sprechen und sich politisch artikulieren wollen, und das Ganze dann mit ideellen Bedingungen zu verknüpfen, und dabei auch noch zu phantasieren oder – sobald irgendetwas nicht funktioniert – zu sanktionieren, ist die Fortsetzung einer rassistischen Grundhaltung. Erst sie nämlich hat Erdoğan und seiner AKP ermöglicht, sich als Schutzpatrone der Türkeistämmigen zu inszenieren.

Ironischer- und auch fatalerweise erinnert das an den populären türkischen Spruch "Ya sev ya terk et" („Lieb es oder verlass es“), den türkische Nationalist_innen allen an den Kopf werfen, die die Idee eines anti-pluralistischen Nationalstaates mit einer homogenen türkisch-sunnitischen Identität in Frage stellen.

Denn zu sagen, dass wir hier keine innertürkischen Debatten wollen, bedeutet gleichzeitig die zumindest teilweise Aberkennung der politischen Subjektivität aller hier lebenden Türkeistämmigen. Eine von transnationalen Beziehungen und diversen Identitäten ihrer Mitglieder bestimmte Gesellschaft ist aber gerade davon bestimmt, dass Menschen ganz unterschiedliche politische Anliegen haben und diese auf unterschiedliche Weise artikulieren. Dass viele hierzulande lebende Türkeistämmige so konkrete Positionen zur Politik ihres Herkunftslandes beziehen, scheint zu einer geradezu naiven Überraschtheit vieler Beteiligten zu führen. Nur ist diese Entwicklung nicht erst jetzt entstanden, seit die AKP ihren Wahlkampf auch hier zu führen versucht.

Der Rechtsstaat ist kein Versteck vor öffentlicher Debatte

Gerade jetzt, diese Zeit der Krise, ist keine gute, um sich hinter dem Begriff „Rechtsstaat“ vor politischen Debatten zu verstecken. Und ebenso wenig, um mit einer „Wir sagen, wie ihr zu sein habt“-Rhetorik Migrant_innen auf ihren subordinierten Platz in der Gesellschaft zurückzuweisen. Rechtstaatlichkeit mag das unabdingbare Fundament jeder Demokratie sein, aber diese zeichnet sich nicht dadurch aus, wie und in welcher Situation Gesetze anlassbezogen exekutiert werden, sondern vor allem dadurch, wer sich auf welche Weise in öffentliche Debatten und Entscheidungen einbringen kann und darf.

Wenn wir nicht in der Lage sind, das zu erkennen und eine politische Debatte, die mitten in unseren Gesellschaften geführt wird, auch als unsere eigene anzugehen, werden wir in den nächsten Wochen noch öfter „Ey, Deutschland!“ oder „Ey, Österreich!“ von Erdoğan und seinen Wahlkämpfer_innen hören, ohne darauf angemessen reagieren zu können. Sollen sie doch kommen und reden! Wir werden mitreden. Und viele werden auch protestieren. Das nämlich ist hierzulande noch möglich, ohne - wie in der Türkei - ins Gefängnis wandern zu müssen.