Erstellt am: 14. 3. 2017 - 15:50 Uhr
Eskalation ohne Ende?
Die Festnahme und Abschiebung der türkischen Familienministerin Fatma Betül Sayan Kaya, die in Rotterdam Wahlkampf betreiben wollte, ist einzigartig. Doch inzwischen stellt sich heraus, dass der Eklat hätte schlimmer ausfallen können. Ahmed Aboutaleb, der Bürgermeister von Rotterdam, erklärte gestern in einem TV-Auftritt, dass die niederländischen Spezialeinheiten, die zur türkischen Botschaft geschickt wurden, Schusserlaubnis hatten.
Nach stundenlangen hitzigen Diskussionen hat letztendlich das Sicherheitspersonal von Kaya ihre Waffen abgegeben. Die Ministerin wurde nach Deutschland abgeschoben. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat angekündigt den Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu bringen. Diplomatische Beziehungen zu den Niederlanden sollen ausgesetzt werden.
Bas Czerwinski / ANP / AFP
Wieso die Diaspora wichtig ist
FM4 Auf Laut – Kontroverse um türkischen Wahlkampf in Europa
Ausländische Wahlveranstaltungen verbieten? Wie verträgt sich das mit der Versammlungs- und Meinungsfreiheit?
Claus Pirschner diskutiert darüber in FM4 Auf Laut am 14. März ab 21:00 mit Gästen und AnruferInnen.
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Türkische Politik ist in Europa seit langer Zeit ein Aufreger. Bis vor wenigen Jahren waren Begriffe wie Integration und Parallelgesellschaften der Zündstoff für die Debatten. Recep Tayyip Erdoğan hatte, damals als Ministerpräsident, 2008 in der Köln-Arena vor 16.000 Türkei-Stämmigen Assimilation als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet. Dafür erntete er scharfe Kritik. Und schon damals lautete der Vorwurf, dass Erdogan türkische Innenpolitik in Deutschland betreibe. Insgesamt hielt sich aber die Aufregung in Grenzen.
Was hat sich in den letzten zehn Jahren verändert?
Außerhalb der Türkei leben rund drei Millionen Wahlberechtigte TürkInnen. Bis 2014 waren sie jedoch für türkische Wahlkämpfe beinahe irrelevant, denn sie durften ihre Stimme nur an Flughäfen bzw. Grenzübergängen abgeben. Wer gerade zufällig mit dem Auto in den Urlaub fuhr, oder am Flughafen auf sein Gepäck wartete, gab seine Stimme ab.
Dann wurde durch die AKP-Regierung das Wahlrecht an ausländischen Botschaften eingeführt. Nach einem verwirrenden Anmeldeverfahren hatten rund 8 Prozent der Wahlberechtigten sich bei den Präsidentschaftswahlen 2014 beteiligt. Bei den Parlamentswahlen im November 2015 gingen knapp 40 Prozent an die Urne. Die einst ignorierte WählerInnenschicht wird immer wichtiger und türkische PolitikerInnen steigen immer öfter ins Flugzeug, um vor den AuslandstürkInnen Werbung zu machen.
Der Wahlkampf beginnt erst
Dass die Reden von Erdogan und AKP-PolitikerInnen die meiste Aufmerksamkeit bekommen, ist keine Überraschung. Sie wollen ein Präsidialsystem einführen, dass das Amt des Ministerpräsidenten abschaffen soll. In Zukunft könnte der Präsident, der gegenwärtig neutral sein muss, Parteimitglied sein und hätte so auch mehr Kontrolle über das Parlament. In den meisten europäischen Ländern hat die AKP die größte AnhängerInnenschaft. In ihrem Schatten treten derzeit auch oppositionelle PolitikerInnen der kemalistischen CHP und der prokurdischen HDP auf und werben für ein „Nein“ im Referendum.
Nach Innenminister Wolfang Sobotka, hat sich nun auch Bundeskanzler Christian Kern für ein Auftrittsverbot ausgesprochen. Das Versammlungsrecht sei ein hohes Gut, aber es gehe um ein Referendum „wo die Demokratie mehr oder weniger abgeschafft wird."
Ob europäische Auftrittsverbote die türkische Demokratie schützen können oder der Integration dienlich sind, ist fraglich. Klar ist, dass sie nicht viel zur Deeskalation beitragen werden, denn der türkische Wahlkampf fängt erst an. Das Referendum am 16. April wird eine historische Entscheidung werden, egal wie das Ergebnis aussieht.
Eine Niederlage der AKP könnte ihren Zerfall einleiten. Die große und heterogene Basis der AKP ist lange nicht mehr so solide. Das Präsidialsystem, die Außenpolitik und die stagnierende Wirtschaft sorgen in den unterschiedlichen Flügeln der Großpartei für Unzufriedenheit. Die Mobilisierung der AKP-WählerInnen ist ein großer Kraftakt. Ein „Nein“ könnte für Erdoğan, der scheinbar alles auf eine Karte gesetzt hat, verheerend sein. Neuwahlen und Zerspaltungen könnten die Folge sein. Das wäre also wieder ein neuer Wahlkampf.
Bei einem „Ja“ hingegen ist eine Übergangsfrist bis 2019 vorgesehen. Dann soll das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft und ein neuer mächtiger Präsident gewählt werden. Eine Wahl, bei der es um alles oder nichts gehen könnte.
In jedem Fall ist es wohl besser, den Ton nicht jetzt schon zu sehr zu verschärfen.
FM4 Auf Laut - Kontroverse um türkischen Wahlkampf in Europa
Sollen türkische Politiker in Österreich für die türkische Verfassungsreform wahlkämpfen dürfen oder nicht? In Hamburg darf der türkische Außenminister aus Brandschutzgründen nicht in einer Halle auftreten, ein generelles Verbot will die deutsche Regierung allerdings nicht. In Österreich möchte Innenminister Sobotka ausländische Wahlveranstaltungen verbieten lassen, wenn es „um Inhalte geht, die der europäischen Menschenrechtskonvention widersprechen“. Wie verträgt sich das mit der Versammlungs- und Meinungsfreiheit? Claus Pirschner diskutiert darüber in FM4 Auf Laut mit Gästen und AnruferInnen.