Erstellt am: 11. 12. 2016 - 00:30 Uhr
FM4 Intelligentkalender #11: Myzel
Nicht weniger als die Rettung der Welt ist es, die Pilzforscher wie Paul Stamets seit Jahren eben dieser Welt zu erklären versuchen. Pilze sind die Antwort auf den Plastikmüll in den Weltmeeren, mit Erdöl verschmutztes Erdreich, die Termitenplage und die Nachfrage nach energiearmen, lokal herstellbaren, nachhaltigen Werkstoffen, die Polymere, Styropor, Leder, Kleber, Holz und Kork ersetzen könnten. Man kann aus ihnen von der Bildschirmverpackung bis zum Haus praktisch alles herstellen. Oder herstellen lassen. Der Pilz macht das nämlich blitzschnell, ohne zusätzlichen Energieaufwand, ohne zusätzlichen Müll und praktisch ohne unser Zutun. Aber langsam.
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Das Objekt der Begierde sind nicht die Pilze, die wir kennen, die munter aus der Oberfläche des Waldbodens schießen, um verspeist zu werden. Objekt der Weltrettungsforscher ist das sogenannte Myzellium. Als Myzel wird der in der Erde befindliche Teil des Pilzes bezeichnet, dessen Fäden Rhizome von bis zu 9 Quadratkilometer bilden können, wie der des zweitgrößten Lebewesens der Welt, eines Hallimaschs in Oregon mit einem unterirdischen Myzelteppich von insgesamt 965 Hektar. Dieser Pilzteppich ist 2500 Jahre alt und 600 Tonnen schwer - bei einer Dicke von nur einer Zelle.
Wie kann man sich die Eigenschaften dieses erstaunlichen Organismus nun zu Nutze machen? Legt man einen bestimmten Pilz zusammen mit etwas Sägespänen, Getreideschalen oder anderem, lokal entstandenen organischen Abfall in eine beliebige Form, umschließt das Myzel blitzschnell diese Späne und wächst von selbst so lange, bis die Grenzen der Form erreicht werden. Dann wird das Ganze auf 43 Grad erwärmt, der lebende Teil des Pilzes stirbt ab und das Myzelgewebe kann weitervewendet werden, gepresst, geschnitten oder gefeilt. Was rauskommt ist ein bearbeitbarer Werkstoff. Je nach Auswahl der Pilzart und Dauer des Wachstumsvorgangs kann die Dichte dieses Werkstoffs variieren, Visionen reichen eben von Materialdichten von Styropor bis Zement.
Der Werkstoff ist wärmeisolierend, wasserabweisend und biologisch abbaubar, beim Entstehungsprozess werden keine Schadstoffe emittiert, er benötigt keine Energie und kein Licht. Er ist völlig ungiftig, zur Not wäre das Pilzmycel sogar essbar, wenn auch - wie schon unsere Speisepilze - mit relativ geringem Nährwert und leicht bitterem Geschmack. Bereits jetzt werden aus Myzellien Dämmmaterialien, Verpackungen, Schallschluckelemente, Ziegelsteine, Möbel und sogar Surfbretter hergestellt. Die New Yorker Firma Ecovative bietet sogar ein sogennantes "Grow It Yourself"-Kit an und ist neugierig, auf welche zusätzlichen Verwendungsmöglichkeiten die Laien-PilzingenieurInnen so noch kommen werden. Wenn nicht mehr gebraucht, wird das Myzelgewebe auf den Mist geworfen und hat dort keine Verweildauer, verwandelt sich binnen Wochen in hochwertigen Kompost.
Paul Stamets ist selbst im Besitz von hunderten Patenten, die die Verwendung des Pilzmyzels betreffen, darunter die Bekämpfung von Grippe und Pocken, die Reinigung von erdölverseuchter Erde und die - recht gemeine - Bekämpfung von Insektenschädlingen.
Wie die andere Weltrettungs-Biotechnologie - die Proteingewinnung aus Insekten - hat die Myzel-Technologie vor allem ein PR-Problem. Dass das herzhafte Abbeißen eines Heuschreckenkopfes das Schnitzel der Zukunft sein müsse, ist wohl ähnlich schwer zu vermitteln, wie die Umgewöhnung, dass in Zukunft Schimmelwachstum und nicht mehr Schimmelbekämpfung die Hausbesitzersorge würde. Aber die Zahlen sprechen für den Pilz, von Camenbert und Gorgonzola wurden schließlich die Meisten überzeugt. Und wenn der Myzelwirkstoff nur das Styropor als Verpackungsmaterial ersetzt, kommt das einer Weltrettung schon ziemlich nahe.