Erstellt am: 8. 12. 2016 - 16:00 Uhr
High Fidelity
Mit den Begriffen „Cyberspace“ und „Matrix“ ist im Science-Fiction-Roman "Neuromancer" aus dem Jahr 1984 ein Computer-Netzwerk gemeint, das nicht als flacher Inhalt auf dem Bildschirm dargestellt wird, sondern als virtuelle Welt. Tatsächlich hat sich diese Entwicklung natürlich noch nicht vollzogen. Das flache, zweidimensionale Facebook hat heute 1,7 Milliarden User, aber die virtuelle Welt Second Life nur 2 Millionen. Außerdem benützt man Second Life auch noch mit einem herkömmlichen Bildschirm, nicht mit einem der modernen Virtual-Reality-Headsets wie dem Oculus Rift.
Philipp Rosedale, der im Jahr 2003 Second Life startete, ist seiner Zeit stets voraus. Mitte der neunziger Jahre entwickelte er Real Video, acht Jahre vor Youtube. Warum aber liegt sein Fokus so stark auf virtuellen Welten? „So lange ich zurückdenken kann war ich fasziniert von der Vorstellung, simulierte Umgebungen zu erschaffen“, sagt Rosedale. „Ich wollte herausfinden, wie man viele Computer miteinander vernetzen kann, um damit eine Welt zu erschaffen, und mir dann anzusehen, was Menschen mit dieser Welt alles anstellen. Das war der Grundgedanke von Second Life. Es war mein erster Versuch, eine Welt zu erschaffen, in der man alles tun kann. Sich bewegen, kommunizieren, konstruieren. Mit der Technologie von heute und mit VR-Hardware wie Oculus Rift usw. ist diese Vision endlich umsetzbar.“
Jetzt hat Philip Rosedale eine neue virtuelle Welt entwickelt, deren Betaversion seit einigen Monaten online ist und ständig weiterentwickelt wird: High Fidelity. Darin können nun hunderte oder gar tausende User an einem virtuellen Ort gleichzeitig sein, ohne dass die Plattform aufgrund hoher Latenz unbenützbar wird oder sogar abstürzt – das ist im zentral organisierten Second Life nämlich bereits bei 40 bis 50 Usern pro Region so, seit 13 Jahren. Die Server von High Fidelity sind aber dezentralisiert, man baut seine eigene kleine Welt oder Insel auf dem eigenen Computer, der dann Teil des Netzwerks wird. „Während die Bandbreite des Internets und die Geschwindigkeit von Computern höher werden“, sagt Rosedale, „wird sich auch die Größe des neuen virtuellen Planeten alle zwei Jahre verdoppeln. Wir werden Städte in der virtuellen Welt haben, die größer sind als irgendeine physische Stadt jemals sein wird.“
CC BY-SA 3.0
Große Visionen
Rosedales Fokus liegt diesmal aber nicht nur bei der Skalierbarkeit seiner Plattform, sondern auch bei deren Avataren: Hände und Kopf werden durch die neuen VR-Technologien wie Oculus Touch, Rift, Vive und Leap Motion genau getrackt, und tatsächlich fühlt es sich auch bei meinen Tests so an, als würde das Gegenüber mit mir im Raum stehen, mir ins Gesicht schauen und mit mir sprechen. Für Rosedale ist das essenziell: „Die Möglichkeit, mit Menschen face-to-face zu sprechen. Du siehst die Bewegungen deiner Hände. Du siehst die Bewegungen der Hände eines anderen Users. Du nickst mit dem Kopf. Du sprichst mit ihnen.“ Außerdem hält es der Erfinder für sehr wichtig, dass die Manipulation von Objekten mit den neuartigen VR-Motioncontrollern so einfach und natürlich wie möglich ist. „Es ist ein Kernelement menschlicher Erfahrung, dass wir physische Gegenstände mit unseren Händen maniuplieren können.“ Second Life wäre unter anderem deswegen der Mainstream-Erfolg versagt geblieben, weil die Mehrheit der User nicht mit Maus und Tastatur virtuelle Umgebungen konstruieren und erforschen wollte. Motion Controller wie Oculus Touch und die Vive Wands hätten das Potenzial, dieses Hemmnis zu verringern.
Ob Philipp Rosedale damit wieder einmal um Jahre zu früh dran ist? Wieviele User haben schon ein VR-Headset, und wo ist eigentlich der Nutzen einer virtuellen Welt? „Wie in den Anfangstagen des Internet drängt sich die Frage auf: Was werden wir als erstes damit tun? Ich denke, in einigen Jahren werden Schulkinder diese VR-Headsets aufsetzen und sich in virtuellen Learning Spaces aufhalten, gemeinsam mit ihren Lehrern. Eine andere Anwendungsmöglichkeit in naher Zukunft sind Business Meetings: Zehn Stunden lang nach New York zu reisen, um an einem zwei Stunden langen Meeting teilzunehmen, ist lächerlich.“
Der Grundgedanke von High Fidelity ist richtig: Dezentral, Open Source, mit VR-Headsets und Avataren, deren Gestik und Erscheinungsbild menschlicher wirkt als in der Vergangenheit. Die Plattform High Fidelity, derzeit in einer frühen Beta-Phase, ist allerdings noch schwierig zu bedienen. Und die Konkurrenz schläft nicht: Facebook arbeitet an einer virtuellen Welt namens „Social“, und viele kleine Startups haben ähnliche Projekte. Egal aber ob sich High Fidelity oder doch eine andere Plattform als Standard etabliert: Der Cyberspace kommt.