Erstellt am: 8. 12. 2016 - 00:01 Uhr
FM4 Intelligentkalender #8: San Patrignano
Was braucht es, um von Drogen loszukommen?
Im italienischen San Patrignano kennt man offenbar die Antwort darauf: Gemeinschaft und eine sinn- und freudvolle Aufgabe im Leben. Dabei ist der Art und Weise, wie das San Patrignano gelebt wird, einzigartig.
Una Grande Famiglia
Gegründet wurde Therapiezentrum 1978 vom Hotelier Vincenzo Muccioli, einem Idealist und Menschenfreund – der ohne ideologische oder religiöse Gesinnung auf seinem idyllischen Landgut in der Nähe von Rimini Drogensüchtige aufgenommen hat. Seine Selbstlosigkeit und Nächstenliebe bildet bis heute das Fundament der familienähnlichen Gemeinschaft, und weil diese Solidarität nicht käuflich ist, ist die Therapie in San Patrignano auch kostenlos. Voraussetzung ist einzig und alleine der Wille, ein anderer Mensch zu werden, der keine Drogen mehr anrührt.
San Patrignano ist vollkommen drogenfrei. Es gibt es für ehemalige Süchtige auch keine Substitute wie Metadon, denn man geht davon aus, dass die Drogensucht ein Symptom und nicht die Ursache sei.
Muccioli war auch ein vehementer Gegner der oft geforderten Drogenlegalisierung, da er überzeugt war, dass Drogen nicht nur den Einzelnen, sondern auch sein Umfeld und somit die gesamte Gesellschaft, zerstören.
Keine klassische Entzugsklinik
In San Patrignano werden die Süchtigen auch nicht als Kranke gesehen, sondern als Menschen mit bestimmten Problemen. Die Drogenabhängigkeit sei nur ein Hilfeschrei, dass die Person mit ihren Ängsten und Schwierigkeiten nicht alleine fertiggeworden ist. Deshalb fällt der therapeutische Ansatz in Sanpa, wie es auch genannt wird, von Person zu Person unterschiedlich aus, weil man auf jeden Menschen individuell eingehen will. So schwankt auch die Dauer der Therapie zwischen drei und vier Jahren.
Um die ganzheitliche Veränderung der Süchtigen zu ermöglichen, werden sie vollkommen von ihrem ehemaligen Umfeld getrennt. Im ersten Jahr ist der Kontakt zu Familie nur brieflich möglich, danach können sie zu Besuch kommen. Die Betreuer von Sanpa stehen während der ganzen Therapiedauer den Angehörigen auch mit Beratung und Aufklärung zur Seite.
Nach dem ärztlich betreuten Entzug erfolgt ein kompletter Neustart. Jeder Bewohner, jede Bewohnerin bekommt von Beginn an einen Buddy zur Seite gestellt, der schon länger in Sanpa lebt und erfolgreich entzogen hat. Ein Vorbild also, und auch viele der freiwilligen Helfer und Betreuerinnen waren süchtig. Die Schwierigkeiten eines drogenfreien Lebens kennt also jeder aus eigener Erfahrung, nur der ehrliche Austausch kann den Betroffenen darüber hinweg helfen. Man ist auch nie alleine, was von schwachen Momenten und Dummheiten abhalten soll.
Das Schlafzimmer wird geteilt, bei der Arbeit ist man zusammen, beim Essen und in der Freizeit sowieso. Es gibt also immer Ansprechpartner, denn man schwört darauf, dass Beziehungen auf Augenhöhe, Wertschätzung, Zeit und Arbeit heilen.
Arbeit als Therapie
Arbeit steht im Zentrum der Therapie. Die Süchtigen können zwischen 50 Berufen wählen und die berufliche (auch schulische und universitäre) Ausbildung ist ein Instrument der sozialen Rehabilitation und soll später die Rückkehr in die Gesellschaft ermöglichen. Die Arbeit fördert nicht nur die Genesung, sondern senkt auch die Therapiekosten, da die TeilnehmerInnen ihren Lebensunterhalt praktisch selbst verdienen.
Die staatlich anerkannte Einrichtung finanziert sich also zum Teil selbst und über private Spendengelder. Staatliche Förderungen will man nicht, um unabhängig zu bleiben.
Eine Welt für sich
San Patrignano ist ein weitgehend autarkes System. Die Landwirtschaft liefert mit Ackerbau, Kühen, Ziegen, Schafen und Schweinen die Grundnahrungsmittel. Es gibt Gärtnereien, eine Bäckerei, verschiedene Werkstätten, Sporthallen, Schwimmbäder, Kindergrippen und eine Klinik mit einem zahntechnischen Labor. Denn Heroin geht nicht nur an die Leber, sondern ruiniert auch das Gebiss.
Kulturgut, nicht Laster
Zigaretten sind verboten, Alkohol ist erlaubt. Zumindest einmal am Tag beim Essen. Das halbe Glas Wein aus der eigenem, preisgekröntem Weingut soll den Süchtigen Genuss und einen maßvollen Umgang damit lernen. Der Weinanbau ist auch ein wichtiger, symbolischer Akt der gemeinsamen Arbeit und der Transformation, denn sogar die alten Holzfässer werden zu Designermöbeln weiterverarbeitet.
Designer bestellen auch in den Manufakturen von San Patrignano. Nicht aus reinem Goodwill, sondern wegen der Exzellenz der Produkte. Die Hundezucht ist international berühmt, Weltmeister reiten Pferde aus San Patrignano – die dort vor allem zu Therapiezwecken gezüchtet werden. Denn im verantwortungsvollen Umgang mit den Tieren sollen die TeilnehmerInnen ihr verloren gegangenes Urvertrauen zurückgewinnen.
Commitment
Es scheint also fast so, als würde die Liebe, die in diesem Projekt steckt, nicht nur auf die Süchtigen, sondern auch auf die Tiere und Erzeugnisse übergehen.
1.600 Menschen finden in San Patrignano Hilfe und ein Zuhause, jährlich werden bis zu 600 Drogensüchtige neu aufgenommen, die Wartelisten sind sehr lang. Seit 1978 hat man mehr als 20.000, vor allem jungen Menschen geholfen, die nicht nur aus Italien, sondern aus vielen Ländern der Welt kommen. Religion, Ethnie, Gesellschaftsschicht spielen keine Rolle, es zählt die Gemeinschaft, das Commitment.