Erstellt am: 9. 12. 2016 - 06:00 Uhr
Die Enzyklopädie der vergessenen Sportarten
"Der Zeit ihre Kunst", prangt in goldenen Lettern auf der Wiener Sezession. Dass dies allerdings nicht nur für die Kunst gilt, muss man spätestens nach der Lektüre von Edward Brooke-Hitchings "Enzyklopädie der vergessenen Sportarten" erkennen. Denn die über 90 Sportarten, die Brooke-Hitchings zusammengetragen hat, hatten alle ein Ablaufdatum.
Liebeskind Verlag
In seinem Versuch, eine möglichst umfassende Bestandsaufnahme der unterschiedlichen vergessenen Formen zu erstellen, die der Sport im Verlauf der Geschichte angenommen hat, hat der Dokumentarfilmer Edward Brooke-Hitchings jede Menge Quellen durchstöbert, bei antiken Autoren und in Sagenbüchern nachgeschlagen und Zeitungen durchgeblättert.
"Fuchsprellen"
Anstoß für seine Nachforschungen, so schreibt er in der Einleitung, war eine besonders rätselhafte Abbildung in einem Buch aus dem 18. Jahrhundert, die eine Tätigkeit namens "Fuchsprellen" darstellte: Gut gekleidete Menschen hielten in der Abbildung Laken in den Händen. Füchse schlichen einerseits zwischen ihnen hin- und her, andererseits wirbelten sie durch die Luft.
Die Recherche ergab, dass es bei diesem "Fuchsprellen" wirklich darum ging, Füchse (aber auch andere Tiere) durch die Luft zu schleudern und sich an ihren Verrenkungen in der Luft zu ergötzen - und an ihrem zweifellos harten Aufprall. Ein - aus heutiger Perspektive - unglaublicher brutaler Zeitvertreib, bei dem im 17. Jahrhundert hunderte Tiere getötet wurden.
Gemeinfrei
Von grausam...
Beim Zusammentragen der über Jahrhunderte und Jahrtausende vergessenen Sportarten hat Brooke-Hitching auch eine Systematik für die Gründe ihres Verschwindens erkannt. Grundsätzlich teilt er sie in drei Kategorien ein: Da gibt es Sportarten, die wegen ihrer Grausamkeit in Vergessenheit geraten sind, jene, die wegen ihrer Gefährlichkeit aufgegeben wurden und die, wegen derer man sich irgendwann geschämt hat.
Sportarten wie das "Fuchsprellen" fallen in die Kategorie Grausamkeit, die in Brooke-Hitchings Buch auch den größten Teil einnimmt. Aus heutiger Perspektive ist es erstaunlich zu lesen, wie grausam man zu Tieren sein konnte und welchen Spaß Menschen anscheinend daraus gezogen haben. Neben Füchsen sind etwa Katzen, Aale oder Bären Opfer menschlichen Zeitvertreibs geworden, und wenn die Obrigkeit Tierquälereien verbieten wollte, hat sie schonmal Aufstände riskiert.
... über gefährlich ...
Public Domain - Library of Congress
Der Einfallsreichtum in der Freizeitgestaltung ist aber auch bei den Sportarten, die ihrer Gefährlichkeit wegen aufgegeben wurden, bewundernswert. Da wären etwa die Adaption bereits bestehender Sportarten, zum Beispiel Autopolo (dessen Titel schon alles über den Sport verrät), oder Eis-Tennis. Durch neue Erfindungen sind aber auch ganz neue Aktivitäten angedacht worden wie das "Ballon-Springen". Für viele dieser Sportarten muss man grenzenlos verrückt sein, um sie auszuüben. Einige davon sind von den Gesetzgebern wegen ihrer Gefährlichkeit verboten worden, manchmal hat man aber selber eingesehen, dass man es besser lassen sollte. Fass-Springen zum Beispiel, bei dem man auf Schlittschuhen über möglichst viele aneinandergereihte Fässer springen müsste. Dann beschenkt Edward Brooke-Hitchings seine LeserInnen mit wundervollen Sätzen wie diesem: "Bedauerlicherweise gelang es nie, den Sport auf ein Sicherheitsniveau unterhalb von 'regelmäßige Todesfälle' zu senken."
... bis lächerlich
Des Musterbeispiel des Autors für Sportarten, die wegen Lächerlichkeit eingestellt wurden, ist Ski-Ballett, eine Kombination aus Tanzen, Akrobatik und Schifahren, mit Figuren aus Eiskunstlauf, klassischem Ballett und rhythmischer Sportgymnastik - und das alles in ausgefallenen Kostümen -, das es 1988 sogar zum Olympia-Demonstrationsbewerb gebracht hat. Ski-Ballett ist rund um die Jahrtausendwende in der Versenkung verschwunden, weil der Schiverband FIS keine öffentlichen Wettkämpfe mehr zuließ. Das Interesse daran hat aber schon in den Jahren zuvor nachgelassen, allerdings nicht, wie der Autor impliziert, weil die Sportart als so lächerlich empfunden wurde, sondern im Gegenteil - und das schreibt Brooke-Hitchings ja auch - weil die Wettkämpfe ihre Extravaganz verloren haben, durch Überreglementierung und weil die Verantwortlichen die Kostüme aus dem Verkehr gezogen haben.
Mehr als Wikipedia-Surfen
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Die Enzyklopädie der vergessenen Sportarten durchzublättern kommt einem so vor, als ob man bei kuriosen Wikipedia-Einträgen hängenbleibt und sich dann von Link zu Link weiterhantelt, ein großes Wundern und Staunen. Doch Brooke-Hitchings Zusammenstellung kann einerseits mit einigen Einträgen aufwarten, die noch keinen Eingang in die Wikipedia gefunden haben, andererseits schlägt der Stil des Autors die Lexikon-Einträge in punkto Unterhaltung um Längen und garantiert Schmunzeln und Stirnrunzeln.
Nach der Lektüre von Edward Brooke-Hitchings "Enzyklopädie der vergessenen Sportarten" weiß man, dass nicht alle Formen des Sports die Zeit überdauern, vielleicht bekommt jemand aber gerade durch dieses Buch Lust darauf, eine der Sporarten wiederzubeleben, beim Roller Derby hat das schließlich auch funktioniert.