Erstellt am: 2. 12. 2016 - 17:17 Uhr
Zug um Zug ins Out
Manchmal hat man den Eindruck, dass man gar nicht alles wissen will, was in der Welt so schiefläuft. Denn man würde vermutlich nie fertig werden. Aber Scheuklappen und der bequeme Rückzug ins Biedermeier bringen selbstverständlich nichts. Um einer gesunden Demokratie gerecht zu werden, soll die Öffentlichkeit möglichst viel über das wissen, was ihre Regierungen und Institutionen tun.
Vor zehn Jahren hat sich das Publizieren von mehr oder weniger geheimen Informationen grundlegend verändert, und zwar aufgrund der Whistleblower-Plattform Wikileaks, deren Domain Anfang Oktober 2006 registriert worden ist. Auf Wikileaks sind seither unter anderem viele Korruptionsfälle und Kriegsverbrechen öffentlich geworden - teilweise in verblüffendem Detailgrad und in starker Heftigkeit. Aber wie steht Wikileaks heute, zehn Jahre später da?
Die im obigen Promovideo eingangs genannten Zahlenprotzereien sind beeindruckend, stellen aber gleichzeitig das Hauptproblem von Wikileaks dar. Denn die schiere Menge an Daten und der Unwille, die Leaks zu redigieren, macht die Auswertung schwer und exponiert manchmal auch Privatpersonen, die mit der jeweiligen Sache oft gar nichts zu tun haben. Doch alles, also alle Dokumente und Korrespondenzen zu einer bestimmten Causa zu veröffentlichen, ist einer der Grundsätze von Wikileaks.
Immerhin in technischer Hinsicht und bzgl. der Aufbereitung der Daten kann man der Plattform keinen Vorwurf machen. So erkennt man etwa an den Signaturen der Emails, ob sie authentisch sind. Auch das Aufbereiten, Strukturieren und Einpflegen der Inhalte in Datenbanken beherrschen die Köpfe hinter Wikileaks und sorgen so dafür, dass man intuitiv durch das sehr umfangreiche Material suchen kann.
wikileaks
Der Höhepunkt von Wikileaks waren die ersten Jahre, als auch noch viele internationale Medienhäuser wie die New York Times, der Spiegel oder der Guardian mit der Plattform zusammengearbeitet und geholfen haben, die Inhalte besser aufzubereiten. Als Wikileaks Mitte bis Ende der 2000er Jahre Menschenrechtsverletzungen wie in Guatanamo Bay oder das grausame "Collateral Murder"-Video veröffentlichte, wo US-Helikopterpiloten grundlos und ohne Mitgefühl Zivilisten töten, war der mediale Paradigmenwechsel unübersehbar: Es wurde klar, dass modernes, sprich digital-anonymes Whistleblowing notwendig ist, um die Transgressionen unserer Zeit aufzudecken. Die Reaktion vieler Betroffener sowie Vertreter regierender Eliten darauf war und ist vorhersehbar: Shoot the messenger.
Ablenkende Seifenoper
Schutz für Whistler
Die NGO Courage Foundation kämpt für das Ansehen von Whistleblowern und bietet ihnen finanzielle und juristische Unterstützung. Die Platform wird unter anderem von Pussy Riot, Slavoj Žižek und dem ehemaligen Wikileaks-Mitarbeiter Andy Müller-Maguhn unterstützt.
Anfang der 2010er Jahre hat sich die Aufmerksamkeit verschoben, weg von der Arbeit und den Veröffentlichungen von Wikileaks, hin zur persönlichen Geschichte seines ambivalenten Gründers Julien Assange. Seit Juni 2012 lebt dieser in der ecuadorianischen Botschaft in London, wo er aufgrund des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs und eines schwedischen Haftbefehls festsitzt.
Es etablieren sich weitere Wikileaks-Persönlichkeiten: Jacob Appelbaum ist, ebenfalls aufgrund von Vorwürfen sexuellen Missbrauchs, mittlerweile eine persona non grata. Sarah Harrison – das aktuelle Gesicht von Wikileaks, unter anderem von der Vogue porträtiert – kümmert sich zwar seit einigen Jahren sehr aktiv um die Betreuung der Plattform, ist aber vor allem als vermutliche Assange-Freundin und Fluchthelferin von Edward Snowden bekannt geworden. Viel Tratsch und wenig Ehr‘ also. Hinzu kommen Vorwürfe, wie etwa, dass die zeitlich pikant während des Wahlkampfs veröffentlichten Clinton-Depeschen Donald Trump Aufwind geben hätten sollen.
Elevate Festival / Jola
Schlechter Ruf
Fest steht: Wikileaks steckt nicht gerne ein, teilt aber viel aus – unter anderem gab es im vergangenen Sommer einen kleinen Skandal, als der offizielle Twitter-Account der Plattform einen eindeutig antisemitischen Kommentar gepostet hatte (VICE/Motherboard hat mehr dazu). Viele Kommentatoren sehen Wikileaks mittlerweile sogar als gescheitert an, etwa der deutsche Netzkulturanalyst Sascha Lobo im Spiegel oder Adrian Lobe von der Berliner Zeitung.
Danke an Daniel Erlacher vom Elevate Festival für die Unterstützung bei der Recherche für diesen Beitrag.
Der schlechte Ruf von Wikileaks ist selbstverschuldet, lenkt aber leider von der weiterhin stattfindenden, relevanten Arbeit der Whistleblower-Plattform ab: Erst in den letzten paar Tagen sind drei riesige Datensätze veröffentlicht worden, darunter die Korrespondenz der Zusammenarbeit zwischen dem deutschen Bundesnachrichtendienst und der NSA, die derzeit für Schlagzeilen sorgt.
Das Leaken hat also erst so richtig begonnen. Wikileaks war der Kickstarter dafür, ohne dem sich NSA-Aufdecker Edward Snowden möglicherweise nie zu seiner mutigen Entscheidung durchgerungen hätte. Schade, dass die Plattform sich seit einigen Jahren so schlecht präsentiert und sich Zug um Zug selbst ins mediale und gesellschaftliche Out führt.