Erstellt am: 28. 11. 2016 - 10:06 Uhr
FM4 Schnitzelbeats #5: Karl Ratzer
FM4 Schnitzelbeats
Sonntagnachts im FM4 Soundpark und anschließend für 7 Tage im FM4 Player
Wer sich mit heimischer Popgeschichte der 1960er und 70er Jahre befassen möchte, sollte dem Wiener Ausnahmemusiker Karl Ratzer (geb. 1950) stets eine Sonderstellung einräumen. In einem Alter, in dem der durchschnittliche österreichische Teenager gerade mit einer Lehre anfing, führte er als Lead-Gitarrist der verruchten Rhythm-N-Blues-Combo the Slaves (1964–1966) bereits das Jet-Set-Leben eines Rockstars. Wenig später adaptierte er den klingenden Bühnennamen Charles Ryder und eroberte als Lichtgestalt des Wiener Psychedelic Rock-Undergrounds schließlich die Kulturseiten des heimischen Feuilletons, wie auch die Playlists des Jugendradiosenders Ö3. Ratzers Bandprojekte brachten progressiven Zeitgeist ins verschlafene Wien und standen in jenen Jahren synonym für popmusikalische Innovation: The Charles Ryders Corporation (1967–1968), C-Department (1969–1971), Gipsy Love (1971-1972).
Gleichzeitig rückten sie einen introvertierten jungen Mann ins Rampenlicht, der sowohl als proletarischer Underdog als auch als virtuoses Wunderkind authentisch wirkte. Im Alter von 22 Jahren verschlug es ihn schließlich in die USA, wo er in einer international vernetzten Jazz-Szene Fuß fassen konnte und mit etlichen Weltstars des Genres arbeitete. 2016 erschien Ratzers aktuelles Werk mit dem schlichten Titel “My Time” (CD/Organic Music), das unlängst im Porgy & Bess in Wien präsentiert wurde und mit relaxten Blues-Balladen überzeugen kann. Eine Zusammenstellung mit spektakulären Ratzer-Recordings aus dessen Jugend – “Early Years” (LP/Monkey) – soll Anfang nächsten Jahres in den Handel kommen. Auch die FM4 Schnitzelbeats widmen sich heute den Anfängen einer beeindruckenden Karriere.
Trash Rock Archive
Trash Rock Archive
1964: Als der verrufene Teenage Outsider/Beat-Sänger Paul Fisher eines Tages eine neue Band auf die Beine stellen wollte, verfolgte er dabei ein strenges, für österreichische Verhältnisse revolutionäres Konzept. Er kreierte eine “Supergroup des Bösen” – bestehend aus den anrüchigsten Typen der Stadt und ausgestattet mit dem härtesten Sound des Landes. Impulsiv wählte er die Besetzung der Formation aus, unter anderem den damals 14-jährigen Karl Ratzer, der ganz abgesehen von seiner hohen Musikalität auch mit schulterlangem Haar beeindrucken konnte: Ein essentielles Beat-Accessoire, das 1964 im provinziellen Wien freilich für großes Aufsehen sorgte. Ein hochkarätiges Fünfer-Line-Up war bald komplett; das Repertoire bildeten harte Rhythm-N-Blues-Standards von Bo Diddley, Muddy Waters und den Animals. Der Name des Proto-Punk-Acts: The Slaves. Der Rest ist gewissermaßen Geschichte.
Der Schweizer Pop-Promoter Hansruedi Jaggi, der 1965 mit den Rolling Stones zu deren ersten Wien-Gig gereist war, sah die unkonventionelle Formation auf der Bühne des San Remo-Clubs und war vom aggressiven Sound und der kompromisslosen Live-Show derart angetan, dass er die Wiener noch am selben Abend unter Vertrag nahm.
Umgehend organisierte er für seine Schützlinge professionelle Live-Tourneen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, bei denen er die Gruppe als "Beatband from Hell" ("Keiner weiß, woher sie kommen. Sie kommen aus der Hölle") ankündigen ließ. Die Slaves erlangten innerhalb weniger Wochen regelrechten Popstar-Status in der Schweiz, als sie mit internationalen Größen wie den britischen Kinks oder den deutschen Lords auf der Bühne standen. In etlichen Fällen erinnern sich Zeitzeugen daran, dass sich die prominenten Headliner nicht gegen die Newcomer aus Wien durchsetzen konnten und im Anschluss an deren Shows vom aufgeheizten Publikum ausgebuht wurden.
Im Februar 1966 veröffentlichte die Schweizer Philips-Niederlassung schließlich drei Singles, die eine der kompromisslosesten europäischen Beat-Formationen für die Ewigkeit konservierten. Darüber hinaus verdeutlichten die konfrontativen Songtexte der Slaves eine Outsider-Gesinnung, wie sie in der heimischen Musikgeschichte bis dato nur selten vernommen wurde und als Prädiktion des Punk-Movements noch von kommenden Generationen wiederentdeckt werden würde. Doch es kam schließlich, wie es wohl kommen musste: Wenige Monate nach der Aufnahme-Session explodierte das Pulverfass und die Mitglieder gerieten sich in die Haare.
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Decca/1968
Der Zerfall der Slaves versetzte die Wiener Beat-Szene in helle Aufregung. Über Nacht entstanden kurzlebige Reunionen und Nachfolgeprojekte mit rasch wechselnden Line-Ups, die meist genauso schnell wieder verschwanden, wie sie aufgetaucht waren. Letztlich war es Karl Ratzer, gerade erst 16 Jahre alt, aber schon mit der Aura eines genialen Wunderkindes behaftet, der das unverhofft entstandene mediale Interesse am nachhaltigsten für sich nutzen konnte. Er erschuf die Kunstfigur ‘Charles Ryder’ und formierte 1967 seine eigene Band, eine psychedelische Rhythm-N-Blues-Combo mit Soul-Anklängen: The Charles Ryders Corporation.
Als Hauskapelle des neu eröffneten Camera Clubs, einem Hotspot Wiener Szene-Prominenz, bestritt das Quintett etliche elektrisierende Live-Gigs, die rasch zum Stadtgespräch wurden. In jene Phase fiel das Engagement für den mittlerweile legendären Sex-&-Crime-Streifen “Schamlos” (1968) des Exploitation-Regisseurs Eddy Saller. Neben einem Kurzauftritt im Film waren auch ganze Songs der Charles Ryders Corporation in der Endfassung zu hören, die hastig im Studio von Gerhard Heinz (siehe FM4 Schnitzelbeats #4) aufgenommen worden waren und im April 1968 vom Major-Label Decca auf zwei Singles veröffentlicht wurden. Allen HörerInnen mit Faible fürs Extraordinäre sei insbesondere die zugedröhnte Acid Punk-Hymne ”White Flames” ans Herz gelegt: Haight Ashbury-Zeitgeist klang im kleinen Alpenland selten so authentisch!
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Pan
Karl Ratzer hatte sich mit dem österreichischen Kulturbetrieb nie assimilieren wollen. Er suchte und fand seine musikalischen Verbündeten stets in den Aussenseitern der Gesellschaft. Seine Musik, seine Bands, wie auch sein Gitarrensound passten ohnehin in kein Schema und klangen wie von einem anderen Stern. Bevor er sich für einige Jahre in die USA absetzte, um dort als Jazz-Musiker Karriere zu machen, tat er sich im Jahr 1971 noch mit einigen anderen, sogenannten “Wunderkindern” des Wiener Pop-Underground zusammen und gründete die All-Star-Band Gipsy Love. Seine Mitstreiter waren dabei u.a. der Jazz-Pianist und künftige Starproduzent Peter Wolf, sowie der Bassist und spätere Supermax-Gründer Kurt Hauenstein, der mit dem zweiten Album “Here We Come” (Pan/1972) von Ratzers Cousin, dem damals 15-jährigen Harri Stojka abgelöst wurde. Rückblickend betrachtet eine der einflussreichsten heimischen Rock-Bands der 1970er Jahre: Prog-Rock meets Funk meets Jazz.
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“Ich wollte immer amerikanisch spielen”, hat mir Karl Ratzer einmal in einem Interview erzählt. “Ich bin dort gewesen, acht Jahre. Und das kriegst nimmer ausse. Gottseidank einerseits. Anderseits kann ich dadurch vielleicht keine engeren Beziehungen zu ‘Austropop’-Leuten eingehen.” In diesem Sinne ließe sich auch Ratzers Gesamtwerk mit einer lebenslangen Verweigerungshaltung gegenüber dem Mainstream charakterisieren, gleichzeitig anhand der Eigenständigkeit und hohen handwerklichen Qualität seiner späteren Blues- und Jazz-Recordings.
Zur vollendeten Mythenbildung trugen letztlich auch sein unnahbares Auftreten, sein fehlendes Interesse an Öffentlichkeitsarbeit, wie auch ein kompromissloser, ausschweifender Lebensstil bei. Anno 2016 mit Karl Ratzer an einem Tisch zu sitzen und mit ihm über seine Frühphase als Teenage-Beat-Musiker zu plaudern, hat gewissermassen sensationellen Charakter. FM4 Schnitzelbeats verneigen sich vor einem großen, unbeugsamen Geist österreichischer Gegenkultur!