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Pia Reiser

Filmflimmern

11. 11. 2016 - 14:10

Goldkonfetti und Sommersprossen

"Die Mitte der Welt" ist eine schwebende Sommer-Euphorie und Herzschmerz-Achterbahn - und wohl ein Meilenstein, was den Umgang mit Homosexualität im deutschen Mainstream-Film betrifft.

Er sei "ein Landei, vielleicht ein bisschen schwuler als die Anderen, aber sonst Standardausstattung", so beschreibt sich Phil lapidar selbst. Der 17jährige Blonde mit den Streifenshirts ist genau das, was das Mainstream-Kino gebraucht hat. Eine homosexuelle Hauptfigur, deren sexuelle Orientierung aber weder zum Thema und schon gar nicht zum Problem gemacht wird. "Die Mitte der Welt" ist keine Coming-Out, sondern eine Coming of Age Geschichte.

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Klingt auf den ersten Blick nicht revolutionär, sucht man aber dann nach Filmen mit homosexuellen Hauptfiguren (die nicht einen Leidensweg zu beschreiten haben), wird einem bewusst, dass "Die Mitte der Welt" - so wie der ebenfalls diese Woche startende "Kater" - eine Leerstelle füllt. Die Geschichte von Homosexualität im Film - von Tabuisierung, Codierung, Verunglimpfung, über die Verhandlung als Problem, die Sichtbarmachung via Film, die lange Zeit mit dem Aufzeigen von Problemen, Diskriminierung verbunden war - ist nun, endlich an einen Punkt gekommen, wo also ein deutscher Film, der sich vor allem an Jugendliche richtet, von zwei jungen Männern erzählen kann, die sich ineinander verlieben und Sex miteinander haben. Probleme gibt's hier natürlich auch, aber die haben nichts mit der sexuellen Orientierung zu tun.

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Wer an der Stelle immer noch glaubt, dass Filme hier schon alles erzählt haben, was es zu erzählen gibt, der muss nur den Blick ein bisschen weiter nach Osten richten. "Die Mitte der Welt" wurde auch am Internationalen Flmfest Moskau gezeigt und dort wurde Regisseur Jakob M. Erwa unter anderem gefragt, wie er denn erzogen worden wäre, dass er solche Filme macht. "Relativ frei fühlend und denkend und ich kann mir selbst aussuchen, wie und wen ich liebe". Auf diese Aussage folgt Applaus bei der Pessekonferenz und nach dem Film kommen die Menschen in Scharen, um sich für den Film zu bedanken. "Steter Tropfen höhlt den Stein", meint Erwa auf meine Frage, ob ihm die Begegnungen in Moskau den Glauben zurückgegeben hätten, dass Film gesellschaftlich oder politisch was verändern kann. "Die Mitte der Welt" ist so ein Tropfen. Ein flirrender, glitzernder Tropfen.

In einer Art verwunschenen Villa Kunterbunt im Hipster Vintage Schick lebt also Phil (Louis Hofmann) mit seiner Zwillingsschwester Dianne und einer Mutter, die nicht müde wird, Unangepasstheit zu predigen. Mit 18 ist diese Frau aus den USA nach Deutschland gekommen, schwanger mit den Zwillingen. Wer ihr Vater ist, wissen die Kinder nicht. Herrlich exzentrisch ohne zur Karikatur zu werden spielt Sabine Timoteo diese Mutter. Sie ist die personifizierte Verweigerung der Bürgerlichkeit, dass man das als Kind nicht unbedingt immer super findet, auch davon erzählt "Die Mitte der Welt".

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1998 erscheint der Roman von Andreas Steinhöfel, damals liest auch der damalige Filmstudent Jakob M. Erwa das Buch und beschließt, das will er auf die Leinwand bringen. Fast 20 Jahre, ein Filmstudium, einige Filme und eine Serie später erfüllt sich dieser Regietraum. Erwa hat die Handlung in die Gegenwart versetzt, liebäugelt stellenweise mit hipper Instagram-Ästhetik, wenn sich etwa Phil und seine beste Freundin Kat bunt Kuchenstreusel ums Maul schmieren, doch im Gegensatz zu so vielen anderen Regisseuren bewahrt sich Erwa eine Aufrichtigkeit und eine Unpeinlichkeit, was die Inszeniernung dieser jugendlichen Lebenwelten betrifft.

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Erwa verzichtet auch auf die klassische Erzählstruktur, auf die übliche Eingangsszenario-Störmoment-Auflösung-Dramaturgie. Am schönsten ist "Die Mitte der Welt", wenn eigentlich nichts passiert. Wenn Phil freihändig Fahrrad über Wiesenwege fährt oder man in einem Blick zurück die Zwillinge als Kinder durch Wälder laufen sieht. Es geht hier mehr um das Kreieren von Stimmungen, als eine Roman-Nacherzählung. Würde es nach mit gehen, müsste man auch das Familiengeheimnis gar nicht aufklären, ich könnt auch noch viel länger einfach nur der jugendlichen Euphorie der ersten Liebe zusehen. Dafür darf man dann aber auch große Bilder entwerfen, so Erwa im Interview. Dieses "Rosabebrillte" der ersten Liebe, das müsste man auch dementsprechend bebildern. Deswegen fliegen hier auch schonmal Goldkonfetti in Slow Motion über die Leinwand. In Kitsch oder Pathos rutscht "Die Mitte der Welt" nie ab, Erwa beherrscht den Wechsel zwischen den Tonalitäten, kann ohne Holperstellen von fast märchenhaft-verwunschenen Bildern, die von der Kindheit der Zwillinge erzählen zu stellenweise zeitgeistiger Social Media tauglicher Inszenierung wechseln, ohne sich anzubiedern.

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Die Stärke von "Die Mitte der Welt" ist auch eine Art Losgelöstheit, nie weiß man so ganz genau, wo dieser kleine Ort ist, in dem die Figuren leben, nie gibt's ein Ortsschild, große Supermarktketten oder Ähnliches zu sehen. Während so viele deutsche Filme ihren Schauplatz gern in den Vordergrund rücken (ich hab ja das Gefühl, jeder dritte deutsche Film ist eigentlich ein Film über Berlin), sind wir hier in der namenlosen Pampa, im Nirgendwo, und deswegen aber auch ein bisschen im Überall. Eine wichtige Rolle spielt hier nicht der Ort, dafür aber ein Haus. Visible heißt die alte Villa (laut Erwa sei sie für 2 Millionen zu haben, vielleicht legen wir einfach alle zusammen?), das Gegenstück zur Einfamilienhaus-Spießigkeit. Sie solle das Haus wie einen Charakter behandeln, hat Erwa seine Szenenbilderin gebeten. Der Plan ist aufgegangen. Eher düster und stellenweise baufällig von außen und unwiderstehlich weitläufig und gemütlich innen. "Es sollte verschiedene Ansichten haben, wie ein Mensch mit Sonnen- und Schattenseiten", so Erwa im Interview.

"Die Mitte der Welt" läuft seit 10.11.2016 in den österreichischen Kinos

Und apropos Sonne: It's the sun that kills us all, singen Naked Lunch während des Abspanns und reißen einem das Herz heraus. Dass er dieses Lied für den Abspann haben will, wusste Erwa schon vor der ersten Drehbuchfassung. Er hat mit "Die Mitte der Welt" einen sonnendurchfluteten Film gemacht, mit Mut zur Überhöhung, so dass die Xavier Dolan-Vergleiche nicht ausgeblieben sind. Der deutsche Film hat jetzt auf jeden Fall einen Film, der die Kursrichtung, was die Repräsentation von homosexuellen Figuren, entscheidend verändert hat.