Erstellt am: 25. 11. 2016 - 06:00 Uhr
Entlang Mumbais Herzschlagader
Ich bin als Teil des Medienbotschafter_innen-Programms der Robert-Bosch-Stiftung für drei Monate in Indien. Im ersten Monat in Chennai, am ACJ. Dann für zwei Monate in Mumbai, um bei der Tageszeitung The Hindu mitzuarbeiten.
3,5 Millionen Menschen transportiert die Western Line jeden Tag und ist damit eine der meistbefahrenen Pendlerstrecken der Welt. Fünf Wochen lang war ich Teil von diesem Mikrokosmos, wo alle Aspekte Mumbais auf kleinstem Raum zusammenkommen.
Ich habe Glück, weil ich an einer der Stationen für die Fast Line wohne (bei der schnellen Version werden nur gewisse Stationen angefahren), Bandra. 20 Minuten dauern die 12,9 Kilometer von hier bis Churchgate im Süden der Stadt. Für weniger als umgerechnet zwei Euro habe ich einen Monatspass für die Strecke. Ein "Kaszettel", auf dem mein Name und mein Alter aufgedruckt sind.
Die Pendlerzüge stehen für Mumbai, sie verkörpern die Stadt. In allen Filmen und Dokumentationen über Mumbai, ja sogar in den Musikvideos der Rapper Naezy und Divine kommen die Pendlerzüge vor, solch integraler Teil sind sie im Alltagsleben der Stadt. Viele Menschen verbringen viel Zeit hier: wer weit im Norden wohnt, fährt teilweise bis zu zwei Stunden für eine Strecke. Auch ich bin für Interviews, oder einfach, um einen Film zu sehen, dreißig Kilometer und mehr durch die Stadt gependelt.
FM4/Irmi Wutscher
Die Überfüllung der Mumbaier Pendlerzüge ist auch berühmt - und ein nicht zu unterschätzendes Sicherheitsrisiko: Jährlich sterben deswegen an die 2.000 Menschen. Die Situation wird aber angeblich besser. Ab 2016 sollten Türen gebaut werden, noch war davon nichts zu sehen. Allerdings besteht hier die Angst, dass die Passagier_innen dann ersticken - denn weniger Menschen werden die Bahn wohl nicht benutzen.
Als Frau steigt man am besten nur ins Ladies-Abteil ein. Die machen, wenn überhaupt, ein Fünftel des Zugs aus, sind aber trotzdem leerer als die Männerabteile. Weil im Zug genau wie im sonstigen öffentlichen Raum in Indien wesentlich mehr Männer unterwegs sind, als Frauen. Die Frauenabteile sollen die Frauen vor Begrapschen und anderer unangenehmer Körperlichkeit schützen. Was vor allem zu den Stoßzeiten, wo man Körper an Körper in der Hitze aneinander klebt, und wo beim Einsteigen Ellenbogen ausgefahren werden, durchaus angenehm ist. Und weil man im Gegenzug zu den Männerabteilen recht selten außen an der Tür hängen muss, um noch mitzukommen.
Man kann in diesen Pendlerzügen wirklich an den offenen Türen stehen und sich die Luft um die Nase wehen lassen, wie man das aus Filmen kennt. Ich mag es sehr, vor allem abends, die erleuchtete Stadt an mir vorbeiziehen zu lassen. Man beginnt mit viktorianischen Gebäuden aus der britischen Kolonialzeit in South Bombay, dann ziehen draußen abwechselnd selbstgebaute Wellblechhütten, alte Mehrfamilienhäuser und vielgeschossige Wohnhäuser vorbei. Der Dobhi Ghat, die große Open-Air-Waschküche liegt auf der Strecke, der Slum Dharavi genauso wie der mondäne Marine Drive. Was man aus den Filmen natürlich nicht kennt ist die Geruchspalette, die von Kloake über Fisch bis verbrennendes Plastik reicht.
"Crush Hour" - Suketu Mehta, Autor von DEM Bombay-Buch "Maximum City" über die Choreographie der Pendlerzüge. Zum Beispiel wie sich dem zu spät Kommenden aus dem Zugabteil Hände entgegestrecken, um ihn noch hineinzuziehen:
And at the moment of contact, they do not know if the hand that is reaching for theirs belongs to a Hindu or Muslim or Christian or Brahmin or untouchable, or whether you were born in this city or arrived only this morning, or whether you live in Malabar Hill or New York or Jogeshwari; whether you're from Bombay or New York.
All they know is that you're trying to get to the city of gold, and that's enough. Come on board, they say. We'll adjust.
Im Zug heben Frauen in Saris ihre schweren Säcke voller Samosas und Fladenbrote über Bombayer Working Girls in Jeans und Bluse, die das Smartphone keine Sekunde aus der Hand legen, um keine Nachricht im Whatsapp-Chat zu verpassen. Müde Frauen legen ihre bloßen Füße auf die gegenüberliegende Bank und muslimische Familien kichern, wenn ich mit den anderen Frauen auf der Bank zusammenrücke, um auf der Dreier-Sitzbank Platz für vier zu machen. Neu Eingestiegene fragen, wo man aussteigt, um sich den Platz zu sichern. Ich verstehe zwar nicht, was sie sagen, ob sie überhaupt Hindi oder Marathi oder einer der zahlreichen anderen Mumbaier Sprachen sprechen. Aber ich habe gelernt, dass die Antwort auf das Angesprochenwerden immer "Bandra" lautet. Auch beim Aussteigen wird man von der Menge in die richtige Richtung bugsiert. Wenn man ganz vorne an der Tür steht, springt man am besten aus dem noch rollenden Zug, damit die hinteren Passagiere noch hinaus kommen, bevor von draußen wieder hineingedrängt wird. Western Line Zug-Etikette.
FM4/Irmi Wutscher
Wenn man hinter sich lautes Klatschen plus Rufe hört, dann weiß man: hier ist eine Hijra unterwegs. Die Hijras sind eine indische Form des dritten Geschlechts, sie sind in den Zügen unterwegs, um Geld zu erbetteln und Segen zu erteilen. Angeblich haben Inder_innen Angst vor ihren Verwünschungen, wobei mir der gegenseitige Umgang im Zug nicht ängstlich vorgekommen ist. Ich habe versucht, mich mich mit den Hijras zu unterhalten, aber sie konnten nur wenig Englisch. Von zweien weiß ich den Namen und wir grüßen uns sehr freundlich, wenn wir einander wiedersehen. Und dann soll ich Geld rausrücken, am besten hundert Rupien.
FM4/Irmi Wutscher
Der Zug ist nicht nur Transportmittel sondern Einkaufsort, Treffpunkt und Arbeitsstelle. Irgendwelche Verkäufer_innen sind immer im Zug unterwegs. Am Vormittag gibt es Haarspangen und Ohrringe zu kaufen, am Abend, auf dem Weg nach Hause, Samosas und andere Snacks, oder Gemüse und Obst. Angeblich sieht man sogar Frauen im Zug Gemüse einkaufen und dann Schneidbrett und Messer herausholen und fürs Abendessen zu schnipseln. Das habe ich selbst aber nie beobachtet.
Die langen Fahrtstrecken erklären vielleicht die Schwierigkeit, hier an Leute heranzukommen: jede_r ist einfach immer busy. Und wer zwei Stunden nach Hause pendelt hat oft nicht groß Lust, dann noch auszugehen oder Leute zu empfangen, man ist wohl einfach nur froh, seine Ruhe zu haben.
FM4/Irmi Wutscher
Ich war jetzt insgesamt drei Monate hier, fünf Wochen davon in Mumbai. Drei Monate sind lange. Drei Monate sind aber auch nichts.
Ich habe unzählige Emails geschrieben, Menschen angerufen. Vieles hat nicht geklappt, oft habe ich Leute nicht erreicht. Eine Idee war, in die Slums zu gehen. Einfach so als weiße Frau da reinzuspazieren funktioniert nicht, hat mir zum Beispiel Rapper Naezy höflich zu verstehen gegeben. Sowohl von der Aufmerksamkeit, die man erregt, als auch vom Verständigen her. Man ist als Weiße und der Sprache nicht mächtige Journalistin sowieso abhängig von Vermittler_innen. Oft sind das zum Beispiel die unzähligen NGOs, die hier tätig sind. Die Frau von der Westler_innen-NGO, die Touris durch den Slum schleust, hat meine Anrufe nie beantwortet. Die Organisation, die Fußballtrainings in einer muslimischen Nachbarschaft in Nord-Mumbai macht, hat keine Englisch-sprechenden Volunteers gefunden, die übersetzen könnten.
Für zu viele Dinge war keine Zeit: schon wieder kein Cricket im Wankhede Stadium, das wenige hundert Meter von der Redaktion weg ist, keine Streetfood-Tour mit dem Lifestyle Redakteur. Zu viel Zeit verlieren durch Hindernisse, die einer immer wieder in den Weg gelegt werden. Wie zuletzt als 500- und 1000-Rupee-Noten spontan entwertet wurden.
FM4/Irmi Wutscher
Neben "farbenfroh" und "faszinierend" ist "vielschichtig" wohl das am meisten bemühte Adjektiv, wenn Indien beschrieben werden soll. Und wenn das auch teilweise ein Stereotyp ist: kaum glaubt man, einen Zipfel des großen Ganzen, eine Wahrheit über Indien eingefangen zu haben, findet man heraus, dass alles aber auch ganz anders sein kann. Oder es ergeben sich wieder tausende neue Fragen daraus. Dazu kommt: Mumbai ist innerhalb von Indien seine eigene Einheit. So wie New York nicht für die ganzen USA und Wien nicht für ganz Österreich stehen kann.
Aber Mumbai ist auch so groß, so divers, so liberal, so busy, dass es mich trotz meiner weißen Haut, meiner hellen Haare und meiner nach indischen Standards wahrscheinlich sehr eigenartigen Kleidung im Strom der Working Women, der Aufstrebenden dieser Stadt (mehr oder weniger) mitschwimmen hat lassen und dafür bin ich Mumbai dankbar.
FM4/Irmi Wutscher
Hear you in January
Ich sehe mir jetzt noch den Punjab und den Himalaya und noch ein bisschen Sri Lanka an. Im Jänner bin ich zurück mit den Storys, aus denen was geworden ist. Und wir werden uns unterhalten über neue Frauenbewegungen in Indien und wie eine neue Generation junger Frauen neues Selbstbewusstsein durch Arbeit und Ausbildung erhält. Wir treffen Mumbaier Rapper, und eine MC und hören, was der Hot Shit an indischer Musik abseits vom Bollywood-Pop ist.