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Irmi Wutscher

Gesellschaftspolitik und Gleichstellung. All Genders welcome.

16. 11. 2016 - 06:00

Großer Wurf oder gefährliches Sozialexperiment?

In Indien wurden letzte Woche überraschend alle 500- und 1000-Rupie-Noten entwertet. Diese Geldscheine machen etwa 80 Prozent des gesamten Bargelds aus.

Bombay Diaries

Irmi Wutscher in Indien

Vergangenen Dienstagabend Ortszeit in Indien waren alle Augen ängstlich auf die USA gerichtet, wo die Präsidentschaftswahlen in vollem Gange waren. Alle Augen? Nein denn in Indien hat Ministerpräsident Narendra Modi völlig überraschend verkündet, dass ab Mitternacht alle 500- und 1000-Rupien-Scheine nicht mehr gelten. Diese Geldscheine machen mehr als 80 Prozent des Bargelds aus, das im Umlauf ist. Seitdem gelten nur mehr 100er, 50er, 20er und 10er. Und eine nigelnagelneue 2000-Rupien-Banknote.

Lange Schlangen vor der Post

Petra Sorge

„Die meisten Menschen in Indien hat das wirklich völlig überraschend getroffen“ sagt Nidhy Razdan vom Newssender NDTV, „es wusste wirklich nur eine sehr sehr kleine Gruppe, dass das passieren würde.“ Als offiziellen Grund für diesen radikalen Schritt nennt die indische Regierung einerseits den Kampf gegen den Terrorismus, angeblich sollen pakistanische Terrororganisationen Indien mit Blüten überschwemmt haben. Und zum anderen der Kampf gegen Schwarzgeld.

„Große Teile der indischen Wirtschaft funktionieren tatsächlich über Schwarzgeld“, erklärt Nidhy. „Wenn man zum Beispiel in Delhi eine Wohnung kauft, dann wird der Verkäufer darauf bestehen, nur eine gewisse Summe per Scheck zu bekommen, den Rest möchte er in bar haben, also schwarz.“ Weil viele Menschen in Indien davon wüssten, so Nidhy, sei dieser radikale Schritt von Narendra Modi begrüßt worden.

Auf der Jagd nach Bargeld

Wer also am Dienstag Abend aufgepasst hatte, ist also noch schnell zum nächsten Bankomat gerannt und hat so oft wie möglich 400 Rupien abgehoben. Wer nicht, ist am nächsten Tag nicht nur mit einem Präsidenten Trump aufgewacht, sondern auch mit der Tatsache, dass er oder sie kein oder wenig gültiges Bargeld mehr hatte. Ich hatte in meinem Fall so etwas wie 80 Rupien, etwas mehr als einen Euro.

Das weitere Prozedere war dann so: jede_r Inder_in darf pro Tag 4000 Rupien (ca. 54 Euro), die er oder sie in altem Bargeld zu Hause hat, in kleine Scheine umwechseln und den Rest auf das Konto legen. Die Bankomaten wurden erst 2 Tage später wieder befüllt, das Abheben ist derzeit auf 2500 Rupien (ca. 33 Euro) pro Tag begrenzt, soll ab Freitag, 18.11., auf 4000 angehoben werden.

Am ersten Tag nach der Verkündung der Neuigkeiten waren alle Banken erst einmal zu. Ich bin gleich am zweiten Tag in der Früh zu einer Bank, auch weil nicht klar war, ob ich als Ausländerin überhaupt indisches Geld tauschen darf, oder nur am Flughafen ausländische Währungen umtauschen darf. Da war die Bank halbwegs organisiert, das Geld - lauter Hunderter und kleinere Scheine - war tatsächlich am Vortag verteilt worden und wurde mit Nummern ausgegeben.

Und dann kam das Chaos

Am Freitag war es schon schlimmer: die Schlangen gingen bis auf die Straße vor der Bank hinaus, über zwei Stunden bin ich in der Traube vor der Tür gestanden, ohne zu wissen, ob es überhaupt Cash geben wird an dem Tag. Drinnen in der Bank haben sich dann turbulente Szenen abgespielt, die mehrmals vom bewaffneten Wachmann mit der Trillerpfeife beendet werden mussten.

Seitdem ist es täglich schlimmer geworden: Ich bin gar nicht mehr angestanden, mittlerweile reichen die Schlangen vor allen Banken rund um den Block und es scheint, als wäre kein Bargeld in kleinen Scheinen mehr verfügbar. Auch vor den Bankomaten sind grundsätzlich immer Schlangen, sie sind aber fast immer leer. Bekannte von mir haben extra um 3 Uhr früh 20 Bankomaten oder mehr abgegrast - kein Erfolg.

Schlange vor dem Bankomaten

Karola Körber

Der Rikschah-Wallah und der Gemüse-Verkäufer

Ich habe ein Bankkonto und extra für die Reise eine Kreditkarte angeschafft, kann also für Essen in Lokale gehen, wo Karten angenommen werden und auf Fahr-Apps ausweichen, die bargeldlos funktionieren. Das ist zwar wesentlich teurer, als diese Dinge sonst kosten würden, aber für mich als Europäerin noch immer im leistbaren Bereich.

Dazu muss man vielleicht wissen, dass ein Großteil der alltäglichen, kleinen Geschäfte in Indien nur mit Bargeld operieren: Weder der Rikschah-Fahrer, noch der Gemüse-Verkäufer, noch die Haushaltshilfe können Kreditkarten oder Überweisungen annehmen. Die Gehälter von vielen Arbeiter_innen, wie zum Beispiel jenen auf Tee- und Jute-Plantagen können derzeit nicht ausbezahlt werden. Auch für Sexarbeiter_innen, z.b. in Sonagachi läuft das Geschäft derzeit extrem schlecht.

Gemüsegeschäft auf der Straße

FM4/Irmi Wutscher

Die Straßenhändler trifft die Situation am meisten.

40 bis 50 Prozent der indischen Bevölkerung haben kein Bankkonto, und sie sind von dieser Banknoten-Entwertung am meisten betroffen: viele von ihnen haben ihre gesamten Ersparnisse in bar zu Hause bzw. leidet ihr Geschäft, weil ihre Kund_innen – genau wie ich – auf bargeldloses Bezahlen umgestiegen sind und das wenige gültige Bargeld lieber für schlechte Zeiten horten – denn man weiß ja nie, ob man am nächsten Tag wirklich noch welches bekommt. Das heißt aber auch: viele Menschen kommen an kein oder nur sehr wenig Geld, können sich die notwendigsten Dinge nicht mehr kaufen.

Mittlerweile hat die „Demonitization“ - so der euphemistische offizielle Begriff – die ersten Todesopfer gefordert: Ein älterer Mann ist zum Beispiel in der Warteschlange kollabiert, ein Mann aus dem zweiten Stock einer Bank gefallen und ein Baby ist gestorben, weil der Krankenwagen den Dienst verweigerte, weil der Vater nur alte 500-Rupien-Noten hatte.

Back to normal – aber wann?

Ich bin als Teil des Medienbotschafter_innen-Programms der Robert-Bosch-Stiftung für drei Monate in Indien. Im ersten Monat in Chennai, am ACJ. Dann für zwei Monate in Mumbai, um bei der Tageszeitung The Hindu mitzuarbeiten.

Die Gelddruckmaschinen in Indien arbeiten laut Indian Reserve Bank auf vollen Touren. Trotzdem ist die Bevölkerung aufgerufen, auch auf bargeldlose Bezahldienste auszuweichen. Web-Apps freuen sich: ich bekomme ständig Werbung aufs Handy, was ich nicht in dieser oder jener Fahr-App noch bezahlen kann. Und PayTM, die indische Version von paypal, hat in den letzten 3 Tagen einen 1000-prozentigen Anstieg der hochgeladenen Geldmenge verzeichnet.

In seinem ersten Statement hatte Premierminister Modi verkündet, der Umstieg sei in 2 Tagen vorbei. Mittlerweile hat er um 50 Tage Zeit gebeten. „Ich rechne nicht damit, dass das Chaos innerhalb dieser Woche vorbei ist“, sagt Nidhi Razdan von NDTV. „Es wird mindestens noch einen Monat wenn nicht mehr dauern, bis in Indien wieder Normalzustand herrscht.

Meine German-Fellow-Kollegin Petra nennt die ganze Sache ein gefährliches Sozialexperiment. Und tatsächlich: es hat etwas Apokalyptisches: der Ausfall eines Systems, das uns sonst ganz normal und selbstverständlich erscheint, in diesem Fall das Bargeld, und die Spannungen, die das mit sich bringt.