Erstellt am: 2. 11. 2016 - 13:31 Uhr
#Vlog16 - 6: The One about Identity
Zwei Wochen Viennale, die gehen an einem gar nicht so leicht vorüber. Die Jackentaschen sind voll mit abgerissenen Eintrittskarten, die Beine müde vom langen in der Schlange stehen und der Kopf ist voll mit Impressionen. Eindrücke aus anderen Welten, wie sie der Film so schön vermitteln kann. In die man eingetaucht ist, abgetaucht, Luft geholt hat und im Idealfall auch etwas Neues über sich selbst gelernt hat. Das heutige, vorletzte Viennaletagebuch dreht sich um dieses Selberkennerlernen und um die Leute auf den Leinwänden, die sich selbst suchen.
Viennale
Certain Women
Die großartige Laura Dern trägt den Namen Laura auch in Kelly Reichardts "Certain Women", der auf der Viennale ganze dreimal vorgeführt wurde, spielt aber keine Hollywoodschauspielerin, sondern eine Anwältin. Einer ihrer Klienten ist der psychisch unter Stress stehende, aus seinem Job gefallene Fuller, dem sie zureden muss, als er sich eines Nachts verzweifelt zu einer Geiselnahme an seinem ehemaligen Arbeitsplatz entschließt.
Lauras Story ist eine von drei in "Certain Women", einem Film, in dem sich mehrere Lebensgeschichten in der wunderschön-depressiven Einöde von Montana kreuzen. Geschichten, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben, die sich aber alle auch um die Suche nach dem Selbst, um das Treibenlassen und das Finden von Lebenszielen drehen.
"Das ist ein sehr großer Film, aber auch ein sehr kleiner Film," sagt Viennale-Chef Hans Hurch vor der Vorführung im Gartenbaukino. Denn die kurzen Momente, die wir mit den Protagonistinnen von "Certain Women" verbringen dürfen, präsentieren sich als Schnappschüsse aus deren Leben. Viel wird uns nicht über die persönlichen Umstände erzählt, viel muss von den Gesichtern der zentralen Figuren abgelesen werden. Was dank dem hervorragenden Cast des Films auch relativ einfach ist. Und einen Gesichtsausdruck teilen sich auch alle der vier im Mittelpunkt von "Certain Women" stehenden Frauen: Den des Suchens. Des Findenwollens eines Ziels. Und des irgendwie Verlorenseins in der nordamerikanischen Einöde.
Die von Michelle Williams gespielte Gina steht auf den ersten Blick schon viel mehr am Boden als Laura, hat Familie, Unternehmen, Kind und ist gerade dabei ein Haus zu bauen. Glücklich ist sie trotzdem nicht, wäre es aber gerne. Und sucht nach kleinen Dingen, die ihr dieses Glück vielleicht vermitteln könnten. So wie der Haufen alter Sandsteine, die im Vorgarten des älteren Albert (schön wiedermal zu sehen: René Auberjonois) liegen und mit denen sie gerne eine Mauer des neuen Hauses bauen würde. Denn dann wenn das Haus fertig ist, dann kehrt vielleicht doch endlich Glück und Sinn in ihr Familienleben ein. Auch wenn ihr antriebsloser Ehemann hinter ihrem Rücken eine Affäre hat.
Viennale
Die stärkste Story in "Certain Women" wird von Lily Gladstone und Kristen Stewart gespielt. Stewart ist die Anwältin Beth, die in das Kaff der Rancherin Jamie kommt, um dort Schulrecht an einer Abendschule zu unterrichten. Und obwohl Jamie keine Lehrerin ist und eigentlich nichts mit dem Ganzen zu tun hat, geht sie abends in die Unterrichtsstunden. Weil sie einsam ist. Weil sie menschlichen Kontakt sucht und glaubt, den in Beth zu finden.
Jamie versucht aus ihrem Dahintreiben herauszubrechen, aus ihrer Einsamkeit und ihrer Ziellosigkeit. Was ihr aber schwer gelingt. Auch Kristen Stewarts Beth will ausbrechen, will Veränderung. Und weiß genausowenig, wo es die letzten Endes zu finden gibt. Da bleibt nur der Versuch, das Ausprobieren neuer Dinge und das Verlassen der eigenen Komfortzone.
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Personal Shopper
Nicht nur in "Certain Women" spielt Kristen Stewart auf der Viennale eine junge Frau auf der Suche nach sich selbst. Auch in dem französischen Film "Personal Shopper" geht sie auf Selbstfindung. "Der Film war im Großen und Ganzen von Kristen inspiriert", erzählt mir "Personal Shopper"-Regisseur Olivier Assayas, der mit Stewart schon 2014 für seinen Film "Clouds of Sils Maria" gearbeitet hat. "Meine Erfahrungen mit einer jungen amerikanischen Frau sind mit ihr gewesen. Deswegen habe ich an Kristen gedacht, als ich ihren Charakter Maureen geschrieben habe."
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In "Personal Shopper" hat die zentrale Figur Maureen gerade ihren Zwillingsbruder verloren und sitzt in Paris in einem Job als Personal Shopper fest, aus dem sie irgendwie raus will, irgendwie auch wieder nicht. Vor allem aber hat Maureen, genau wie ihr Bruder vor ihr, übersinnliche Kräfte und kann mit den Toten kommunizieren. Ein Horrorfilm ist "Personal Shopper" aber nicht und benutzt Fragmente des Genres eher vorsichtig. "Man kann die Farbe Rot für ein Bild verwenden, aber man würde trotzdem nicht die ganze Leinwand rot anmalen", sagt Assayas dazu.
Vielmehr ist das ein Film über jemanden auf der Suche nach der eigenen Identität. Sie hat den Boden unter den Füßen verloren, lebt als Fremde in einem fremden Land und weiß nicht mehr wo und vor allem wer sie selbst ist. "Willst du jemand anderes sein?", lautet eine Textnachricht, die Maureen im Laufe des Film bekommt. "Ja", schreibt sie zurück. "Wer?" "Ich weiß es nicht."
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"Ich habe das Gefühl, dass wir die Grenzen des Erwachsenwerdens immer weiter zurückdrängen. Wenn wir erwachsen werden, finden wir uns in einer Identitätskrise wieder. Maureen hat diesen Moment immer weiter zurückgedrängt, jetzt kommen aber plötzlich ihre inneren Ängste in ihr hoch. Und sie ist gezwungen, sich zu entscheiden, wer sie sein will." Der Weg zum eigenen Selbst wird durch Metaphern ausgedrückt, durch Sequenzen, über die wir nicht wissen, ob sie jetzt echt sind oder nicht. Mit wem Maureen gerade kommuniziert, mit ihrem Bruder, mit sich selbst oder doch mit jemand anderem.
Damit vermittelt "Personal Shopper" permanent leichte Unbehaglichkeit, dargestellt durch Szenen, die an Theaterstücke erinnern. Als ob wir jemanden in einer Liveperformance beobachten, die durchs Leben taumelt und darauf warten, dass sie von ihrer Bühne fällt. "Personal Shopper" ist ein Film, der sich damit, wie seine zentrale Figur, einfach treiben lässt. Ein Film über die Identitätskrise in einer Identitätskrise. Der aber genausowenig wie "Certain Women" Antworten auf die großen Selbstfindungsfragen gibt. Aber dafür ist Film ja irgendwie auch gar nicht da.