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Christoph Sepin

Pixel, Post-Punk, Psychedelia und sonstige Ableger der Popkultur

21. 10. 2016 - 07:24

#Vlog16 - 1: The One with the Opening Night

Reden über Gesellschaft, reden über Jacken und ein Eröffnungsfilm, der zu Tränen rührt. Die Viennale ist eröffnet.

Viennale auf FM4

Das komplette Programm der Viennale 2016 gibt es auf viennale.at zu finden.

Tickets gibt es ab 15. Oktober, 10 Uhr auf viennale.at oder unter 0800 664 016 (10 - 20 Uhr).

An der Außenmauer des Hotel Intercontinental in Wien hängt Harold Lloyd an einer Uhr baumelnd. Also nicht Lloyd selbst natürlich, sondern eine Skulptur von der Wiener Künstlergruppe Steinbrener/Dempf & Huber. "Sign of the Times" heißt die Installation in Anspielung auf den 1923er Film "Safety Last!". Das ist nicht nur Fotogelegenheit für daran vorbeispazierende Touristen, sondern auch Gleichnis, wenn man so will: die Zeit schreitet stetig voran und rutscht uns aus den Händen. Manch einer versucht sich daran festzuhalten, stürzt aber unweigerlich ab.

Installation zur Viennale am Hotel Intercontinental

Christoph Sepin / Radio FM4

Die Installation am Intercontinental ist aber gar nicht in Bewegung, sondern steht still, wie in der Zeit gefroren. Das bedeutet sicher auch irgendwas Cleveres, ich hab aber keine Energie mehr, darüber nachzugrübeln. Denn ich war mir schließlich die Eröffnungzeremonie der diesjährigen Viennale, inklusive des mit Spannung erwarteten Eröffnungsfilm "Manchester by the Sea" anschauen.

Das Motiv mit dem Festklammern an der Zeit, das taucht noch ein paar Mal auf. Die Viennale hält sich zum Teil daran fest: Retrospektiven gibt es jede Menge dieses Jahr, ein Zurückschauen auf die großen Größen. Und sogar auf "Müllers Büro", den absurden Klassiker, der heuer 30 Jahre alt wird.

Diese schrecklichen Vordrängler

Als ich im Gartenbaukino ankomme, um mir meine Eröffnungsfilm-Tickets abzuholen, sind gerade mal fünf Menschen in der Warteschlange. Trotzdem drängelt sich jemand vor und setzt sich dieses "Warteschlangen zählen für mich nicht"-Gesicht auf. Dabei öffnet die Ticketkassa erst eine halbe Stunde später. (Was die geringe Anzahl der Menschen erklärt.)

Je mehr Leute auftauchen, desto mehr wird sich auch in verschiedensten Variationen vorgedrängelt. Mein Lieblingsbeispiel ist dieser Blick, der suggerieren soll, man wisse nicht, wie eine Warteschlange funktioniert. Der Gesichtsausdruck, der pure Unschuld vermitteln will. "Mir hat ja nie jemand gesagt, wie das mit dem Anstellen funktioniert", quasi. Darf man an dieser Stelle so böse sein und behaupten, dass das Eröffnungsgalapublikum das Anstellen prinzipiell einfach nicht gewohnt ist? Nein, darf man natürlich nicht.

Und dann ist es auf einmal ganz schnell richtig voll im Foyer des Gartenbaukinos. Mit Leuten, die lachen, trinken, Tschick rauchen und den Karl Markovics anglotzen. Drin im Saal wird sich dann brav hingesetzt und damit beginnt auch gleich ein beinharter Kampf um die Armlehne zwischen mir und der Person neben mir. Ich lass ihn gewinnen. Er bedankt sich dafür, indem er durch die ersten Minuten des Eröffnungsfilms seinen Twitter-Feed checkt.

Viennale Bühne

Christoph Sepin / Radio FM4

Bevor es aber mit der filmischen Unterhaltung losgeht, dürfen die Eröffnungsreden nicht fehlen. Stadtrat Andreas Mailath-Pokorny zitiert zu Beginn gleich Bob Dylan. Wegen #literaturnobelpreis. Und spricht über die postfaktische Gesellschaft, über den Hass im Netz und das Fehlen von sozialer Interaktion.

Ein Fehlen, dem durch das gemeinsame Filmeschauen entgegengesteuert werden soll. Durch ein bisschen Vergnügen, ein bisschen Nachdenken, ein bisschen Reflektieren. Viennale-Chef Hans Hurch hält danach eine hervorragende Eröffnungsrede deren zentraler Fokus sein eigenes Sakko ist. Das ist nämlich, so Hurch, seit 20 Jahren das gleiche. Aber nicht dasselbe. Und so wie die Viennale selbst damit eine Konstante in wechselhaften Zeiten. Ein Festklammern an der Zeit, wenn man will, wie Harold Lloyd an der Uhr.

Bevor mit "Manchester by the Sea" der große Eröffnungsfilm gezeigt wird, werden noch zwei Kurzfilme gezeigt. Stargast Patti Smith wird mit dem Musikvideo zu "Summer Cannibals" von Robert Frank geehrt, die Filmemacherin Danièle Huillet durch das Zeigen der finalen zwei Minuten ihres Films "Schwarze Sünde". Und dann geht's auch schon los mit der Feature-Film-Präsentation des heutigen Hauptfilms.

Manchester by the Sea

Viennale

Manchester by the Sea

Die Kinosessel im Gartenbaukino sind mir von allen Kinosesseln in Wien die unliebsten und unbequemsten. Nach der Eröffnungsrede also noch mal durch einen Film mit über 130 Minuten durchzusitzen, hört sich da ein bisschen nach Herausforderung an. Aber jemand hat mir mal gesagt: Wenn der Film richtig gut ist, dann bist du so drin, dass es wurscht ist, wie und wo du sitzt. Und genauso ein Film ist "Manchester by the Sea" auch.

Die Geschichte beginnt als Lee Chandler, ausgezeichnet gemimt von Casey Affleck (dem besseren Affleck-Bruder, wie manche sagen), erfährt, dass sein Bruder Joe an einem Herzinfarkt verstorben ist. Lee muss daraufhin zurück in das ihm so verhasste Manchester-by-the-Sea, einem Kaff, zwei Stunden von Boston entfernt. Vor allem, weil sich jetzt jemand um Joes Sohn und Lees Neffen Patrick kümmern muss. Zu Beginn wissen wir kaum etwas über die Geschichte unseres Hauptcharakters, wissen nicht warum er so lethargisch ist, warum er soviel trinkt und sich in Bars scheinbar wahllos mit Menschen prügelt. Und vor allem nicht, woher seine schwierige Beziehung zu seinem Heimatort kommt.

Manchester by the Sea

Viennale

Das Mysterium um Lee wird im Filmverlauf langsam immer mehr gelüftet und nimmt auf eine emotionale, triste und zutiefst bedrückende Reise in seine Vergangenheit mit. "Manchester by the Sea" erzählt all das auf erstaunlich vorsichtige Art und Weise, wenn jede Einstellung detailgenau konzeptioniert wirkt, Charaktere präzise platziert werden und damit allein schon durch ihre Position in der Szene eine kleine Geschichte vermitteln. Ein guter, schöner Film kann jederzeit pausiert werden und man hat einen stimmigen Screenshot, so sagt man. Auf Kenneth Lonergans Drama, der glücklicherweise im Saal anwesend ist und damit unseren Applaus am Ende seines Films auch hört, trifft das zur Gänze zu.

"Manchester by the Sea" bleibt als Film in Erinnerung, der keine Antworten liefern will und keine moralischen Vorgaben gibt. Sondern vor allem die Kunst der Erzählung durch das Filmemachen voll ausnutzt. Mit jeder Kameraeinstellung, jeder Überblendung, jedem kleinen Soundeffekt, der in seiner Unmittelbarkeit die anwesenden Zuseher und Zuseherinnen zum kurzen Aufspringen im Kinosessel bringt.

FM4 Unlimited

Die Cypress Junkies waren live bei FM4 Unlimited und haben eine Session gespielt.

Für 7 Tage im FM4 Player

Und dann gehen wir erschöpft aus dem Saal. Manche in die Dominikanerbastei zum Feiern und Saufen mit Cypress Junkies, andere heiß diskutierend heim. Denn morgen geht's schon wieder weiter mit all dem Viennale-Festklammern.

Vor dem Gartenbaukino

Christoph Sepin / Radio FM4