Erstellt am: 1. 10. 2016 - 18:34 Uhr
Kraft Dublin
In Kalwang grüßt die Bevölkerung einander und sie grüßen auch Fremde mit Grazer Autokennzeichen. Hier ist alles sehr friedlich, der Wald und die Berge nah und der Ortskern überschaubar. Kalwang, das erinnere ihn so sehr an ihr Land Syrien, sagen Tagleb Alahmad Djammas und Mariam Alaskr Alkhalifa und das überrascht dann doch. "Alle kennen einander, alle leben ein sehr soziales Leben, wie wir es vor dem Krieg in Syrien hatten. Vielleicht gibt es keinen Ort in der Welt, der so wie Kalwang ist", schwärmt Mariam.
Die meisten Geflüchteten wollten in eine größere Stadt. Aber für das Paar Mariam und Tagleb ist die obersteirische Gemeinde mit ihren 1.019 EinwohnerInnen der beste Platz. In der schönen Wohnküche der Familie Dokter sitzen alle um einen großen Tisch. "Wir werden Kalwang nicht verlassen", sagt Mariam und ringt zugleich mit sich, weil ihre Stimme kurz wegbricht. Denn das Ehepaar soll nach Kroatien abgeschoben werden. "Für uns ist das unvorstellbar."
Nach dem Dublin-Abkommen hat sich Österreich für nicht zuständig für ihr Asylverfahren erklärt, zuständig sei Kroatien. Das Dublin-Abkommen regelt in der Europäischen Union, dass sich das erste Land, wo ein Asylantrag gestellt wurde, auch um das Asylverfahren kümmern muss. Jederzeit können Tagleb Alahmad Djammas und Mariam Alaskr Alkhalifa von Beamten abgeholt und abgeschoben werden.
In Sachen Willkommenskultur
"Wir waren der Meinung, wir unterstützen den Staat bei der Willkommenskultur. Und wir wollten auch etwas zurückgeben: Wir haben das Glück", sagt Ewald Dokter. Als vor einem Jahr Tausende Menschen über die sogenannte Balkanroute von Staat zu Staat weiter Richtung Mitteleuropa unterwegs waren, zu Fuß, mit Bussen und Bahn von einem Staat zur Grenze zum nächsten gebracht wurden, war für die Dokters, gerade zurück aus dem Urlaub in Griechenland, schnell klar: Sie wollen ihr Haus für Geflüchtete öffnen und jemanden aufnehmen.
Also meldeten sie sich, als private Quartiere gesucht wurden. Die angedachten Räumlichkeiten wurden auch begutachtet, aber von staatlicher Seite wurden der Familie keine Flüchtlinge zugewiesen. Doch im Jänner meldete sich eine engagierte Bekannte. In der ehemaligen Baumarkt-Filiale in Leoben, die als Flüchtlingsquartier umfunktioniert worden war, sei ein Ehepaar, das sie treffen sollten. Nach einem gemeinsamen Kaffee war für alle klar: Die Dokters nehmen Tagleb Alahmad Djammas und Mariam Alaskr Alkhalifa bei sich auf.
Die ganzen Ängste, die am Anfang bestanden, zum Beispiel, wie sich das Zusammenleben entwickeln werde, sind schnell verflogen. "Wenn ich aber damals gewusst hätte, welche Ängste mich heute plagen, dann weiß ich nicht, ob ich das Projekt angegangen wäre", sagt Ewald Dokter.
Radio FM4 / Maria Motter
Fliehen, bis kein Zufluchtsort mehr übrig ist
Mariam Alaskr Alkhalifa ist 33 und Tagleb Alahmad Djammas hat bald seinen 42. Geburtstag. Ursprünglich kommen sie aus Deir ez-Zor im Osten Syriens. Sie hat englische Literatur gelehrt, er als Zahnarzt gearbeitet. Ihr Heimathaus stand an den Ufern des Euphrat. Das Haus wurde zerbombt, ihre Familie haben sie verloren, von einer syrischen Stadt flohen sie zur nächsten vor den Truppen Assads und vor dem sogenannten Islamischen Staat. Bis sie keinen Zufluchtsort in Syrien mehr wussten. Eher würden sie sterben, als noch einmal fliehen zu müssen, sagt das Paar zur drohenden Abschiebung nach Kroatien, wo ihr Ansuchen auf Asyl zu bearbeiten wäre. Würde der kroatische Staat die SyrerInnen weiter abschieben? Zurück ins vorherige Land, sozusagen die Balkanroute retour? Alles ist offen.
Seit Jänner leben die Familien zusammen in einem Haus. Sogar in die Kirche gehe man gemeinsam, erzählt Tagleb. "Ich möchte sie nicht mehr missen. Ich möchte sie nicht mehr verlieren", sagt Daniela Dokter, die Mariam beim Einzug gleich einen Garten übertragen hat. Sie haben einander ins Herz geschlossen. Für die Gemeinde betreut das Paar den Blumenschmuck im Ortsbild.
"Jedes Mal, wenn die Glocke klingelt, reißt es mich fürchterlich. Für mich ist es ein Wahnsinn, wenn zwei Leute vor dem Elend in Syrien fliehen und sich dann in Österreich wieder verfolgt fühlen und keine Ruhe finden können", sagt Daniela Dokter. "Es wäre wünschenswert, wenn sich der österreichische Staat genauer anschauen würde, wie integriert die Menschen sind. Und nicht Leute, die fast ein Jahr lang da sind und sich schon auf Deutsch unterhalten können, sich um Integration bemühen, wieder aus dem Ganzen herausreißen und wieder in ein anderes Land mit einer anderen Sprache stecken. Ich glaube aber, dass das nicht nur ein österreichisches, sondern ein EU-weites Problem ist", findet Daniela Dokter. Zumindest jenen Flüchtlingen, die jetzt da sind und sich bemühen, sollte man eine Chance geben, ein neues Leben zu beginnen. Die Dokters haben Mariam und Tagleb diese Chance gegeben.
Radio FM4 / Maria Motter
Hoffnung auf aufschiebende Wirkung
Der Familienvater Ewald Dokter hat jetzt große Sorgen - nicht allein um Mariam und Tagleb. "Ich mache mir Sorgen, weil wir alle einen ganz sinnlosen, schweren Verlust erleiden würden", sagt Dokter angesichts der drohenden Abschiebung. So viele Menschen haben an der Integration der einzigen zwei Flüchtlinge in Kalwang mitgewirkt. "Wir hoffen alle miteinander auf ein Wunder, dass zumindest eine aufschiebende Wirkung erteilt wird."
Die Familie Dokter hat seit Wochen einen Anwalt für ihre syrische Familie beauftragt. Jetzt appellieren die Dokter in einem offenen Brief an den Innenminister Wolfgang Sobotka, "von der Möglichkeit des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO Gebrauch zu machen und das Asylverfahren dieses Ehepaares, das zu unserer Familie wurde, in Österreich durchzuführen".