Erstellt am: 25. 9. 2016 - 13:57 Uhr
Zweite und dritte Blicke
steirischer herbst,
Festival für neue Kunst, bis 16.10.2016, Graz, Leibnitz, Leutschach, Allerheiligen bei Wildon
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Zum steirischen herbst kann Ai Weiwei gar nichts sagen. Die eine Frage nach seinen Eindrücken ging sich gerade aus. Samstagvormittag kam der in Berlin lebende Superstar der Kunstwelt eingeflogen. Nach einem exklusiven Interview mit Gernoth Rath eröffnete er die Ausstellung "Geknetetes Wissen" im Kunsthaus Graz, die der frühere künstlerische Intendant Peter Pakesch eingefädelt hatte und die Ai Weiwei mit Edmund de Waal gestaltet hat. Auf dem "Kunst Rollator", wie es ein Freund großartig formuliert, großes Gedränge. Im Foyer: großes Gedränge.
Radio FM4 / Maria Motter
"Ich habe extra für diese Ausstellung Österreichisch gelernt", scherzt jemand sehr fröhlich im Publikum und macht mir den Simultanübersetzer. Ai Weiwei lässt sich sehr falsch und sehr Wienerisch aussprechen, ich übe die korrekte chinesische Aussprache. Ai Weiwei nimmt Minuten zuvor mein Telefon, sagt "Selfie?" und drückt schon ab. Vielleicht ist das einfach fair enough, wenn JournalistInnen einen ständig fotografieren.
Radio FM4 / Maria Motter
Tags zuvor, Freitagnacht, rutschten und kugelten Maulwürfe über die Bühne in der Helmut-List-Halle. Mit Philippe Quesnes "Nacht der Maulwürfe (Welcome to Caveland)" eröffnete der steirische herbst 2016. Man muss immer weiter durchbrechen. Die Maulwürfe erledigten das mit Vorschlaghammer und eigener Band. Ein Reich wurde zerstört und wieder aufgebaut. Maulwürfe schlagen Purzelbäume, wenn die Gänge zu eng sind und sie die Richtung ändern wollen.
Wolf Silveri
Meditieren mit Maulwürfen
In Quesnes Stück gab es keine Metaebene. Hinter mir langeweilte sich geladenes Publikum lautstark. Die SchauspielerInnen und Musiker in ihren perfekten Tierkostümen waren ein krasser Kontrast zur Eröffnungsrede Veronica Kaup-Haslers. Die Intendantin des herbst plädierte wie in den Jahren zuvor für Vernunft und Humanität. "Wir schaffen das" ist das Leitmotiv des steirischen herbst. Kein Ausrufezeichen, kein Befehl, sondern als Feststellung und als Rahmen für die kommenden drei Wochen Kunst gesetzt.
Im Volksgarten, in der "Arrival Zone" des steirischen herbst, nützten junge Männer das Open Mic für ihre Musik. Sich an den Schultern halten und im Kreis tanzen macht immer gute Laune. An diesem Abend wird auch in der Griesgasse getanzt, David Bowies "Heroes" tönt aus den Lautsprechern, auf einem Balkon steht ein DJ-Pult. Die Gegend um den Griesplatz wird zu gern wie der Volksgarten als miesest beschrieben, denn an diesen Orten wird offen gedealt, Partykids kriegen ihre Vergnügungssuchtmittel nun mal nicht in der Apotheke am Eck. Das Fest "Grieskram" wollte gestern zeigen, was im Gries alles Schönes passiert, mit eigenem Museum im Bus und vielen Aktivitäten der Nachbarschaft. Kein herbst-Programm, doch die Intention ist dieselbe: Kommt zusammen. In der "Arrival Zone" klappt das mühelos.
Wolf Silveri
Wer ist drinnen, wer draußen?
Durch die Drehtüren kommt man für Minuten nicht ins Kunsthaus Graz. Der Schauspieler und Regisseur Michael Ostrowski gibt auf. Er ist den zweiten Tag wieder in Graz und schaut sich vieles beim herbst an. Das Motto "Wir schaffen das" sei sicher nicht ganz falsch. Ab wann kokettiert die Kunst damit? "Die Frage muss man sich immer stellen. Wie ich gestern bei der Eröffnung war, waren tausend Leute, die alle wahrscheinlich relativ ähnlich denken. Es trifft die, die eh schon so denken. Wie aber trifft man Leute, die nicht so denken? Das beschäftigt micht zurzeit sehr", antwortet Ostrowski. "Vor dem Kunsthaus stehen überall 'Österreich-braucht-Sicherheit'-Plakate. Und die drinnen denken sich wahrscheinlich das Gegenteil. Aber die große Herausforderung ist, diese Gedanken an normale Leute zu bringen und nicht nur an ein kultur- und kunstaffines Publikum. Das ist auch wichtig und gut, dass man sich da zusammenhängt und was tut. Aber in Wahrheit geht es darum, über die eigenen Kunstgrenzen hinauszuschauen." Ai Weiwei sei ein spannender Typ. Gut, dass er da wäre.
Schönheit ist eine Kategorie der Kunst, die Schau "Geknetetes Wissen. Die Sprache der Keramik" erfüllt sie. Keramik, das wird eher dem Kunsthandwerk und anthropologischen Sammlungen zugeordnet. Die unterschiedlichen Fragmente aus Keramikteilen und Objekten erfreuen eine Besucherin besonders: "Ich bin nicht unbedingt ein Ai-Weiwei-Fan. Mit der Ausstellung hat er mich, glaube ich! Ich bin weniger wegen der Keramik hier, ich schaue mir immer wieder Keramikausstellungen an und kaufe immer wieder etwas. Mich interessiert die Verbindung zur Kunst. Mir fällt Louise Bourgeois ein, die auch sehr viel Keramik gemacht hat." Spannend, welche ExpertInnen es unter den BesucherInnen gibt.
Valie Export forever
Radikal war die Kunst hierzulande in anderen Jahrzehnten. Oft braucht es nicht viele Objekte. Im Künsterhaus Halle für Kunst und Medien hängt in einem Raum ein gerahmtes Konzeptblatt mit zwei Fotos: Valie Export hat eine Performance konzipiert, "I am beaten" von 1973 ist eine "Körperinteraktion". Mensch und Maschine, Frau und Kamera und Tonaufnahme traten gegeneinander an. Identität dupliziert sich schließlich durch die Verschränkung. Das Foto der Performance zeigt die am Boden eines Ausstellungsraums liegende Valie Export. Immerzu mehr als futuristisch sind Valie Exports Arbeiten.
Radio FM4 / Maria Motter
"Yes, but is it performable? Untersuchungen des performativen Paradoxes" heißt die Ausstellung, in der mehrere Performances stattfinden werden und in der schon jetzt die schöne Arbeit "Mirror Pieces, 1968/2000" der amerikanischen Künstlerin Joan Jonas zu sehen ist. Es ist ein Raum, der auf mehreren Ebenen auf eine der frühen Spiegel-Performances verweist.
Ein Skandal, der ausbleibt
Aufregen könnte und sollte vor allem ein Projekt: Der Pop-up-Store der "Schuldfabrik" Julian Hetzels in der Volksgartenstraße verkauft Seifenstücke aus menschlichem Körperfett. Etliche der limitierten Seifen gingen am Eröffnungstag über den cleanen Ladentisch zugunsten eines Brunnenprojekts in Malawi, wie es heißt.
Radio FM4 / Maria Motter
Gibt es das Brunnenprojekt tatsächlich? Wer kauft eine Seife mit menschlichem Fett von Fettabsaugungen? "1938" steht auf einem der Seifenstücke, die in den Räumlichkeiten der "Schuldfabrik" ausgestellt sind. Der dezente Hinweis ist nicht für jeden Besucher deutlich genug, wie BesucherInnen berichten. Die industrielle Vernichtung und versuchte Verwertung von Menschen betrieben die NationalsozialistInnen in Vernichtungslagern, konzipiert und geplant bis auf die Knochen ihrer Opfer. Die Tour durch die Schuldfabrik ist performativ angelegt und ein Ablasshandel mit eigener Schuld, Schulden und der "dritten Welt" wäre möglich. Warum das ein Skandal sein müsste, aber keiner geworden ist: mehr dazu bald.
FM4 / Maria Motter
Almeria schnuppern
Zeit hat definitiv Grenzen. Sehr empfohlen wurde gestern noch im Club Panamur "Mikrokosmos".
Vom Buschenschank ins Studio 54: Katharina Seidler unternimmt eine Vorschau auf das Musikprogramm des steirischen herbst.
Der am meisten vernachlässigte menschliche Sinn ist der Geruchssinn. Der Grazer Künstler Markus Jeschaunig ist an europäische Orte gereist, die für das Zeitgeschehen stehen, und hat mit einem mobilen Destillator im Koffer Düfte konserviert. Den Vorgang der Destillation kennt man vom Schnapsbrennen und zur Herstellung ätherischer Öle. Das Tor zu Europa an der türkisch-bulgarischen Grenze riecht nach einer Pflanzenessenz. Der ekeligste Geruch ist Bitumen mit Petrol. "Sehr viele Menschen sagen, ihr Ort rieche nach Autos und Verkehr, bevor sie nachdachten, was wirklich typisch ist für Athen, für Brüssel oder für Almeria", sagt Markus Jeschaunig. In der Kunsthalle Graz können sich BesucherInnen durch Europa riechen. Ein gutes Parfum wäre die Orangenblüte aus Athen. "Im April in Athen hat die ganze Stadt mit den kleinen Orangenbäumen an den Straßen so einen schönen Duft! Die Bäume blühen und tragen gleichzeitig Früchte. Ich habe extrahiert, was da war. Luft ist das Trägermedium der Gerüche und kennt an sich keine Grenzen."