Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Vom Buschenschank ins Studio 45"

Katharina Seidler

Raschelnde Buchseiten und ratternde Beats, von Glitzerkugeln und Laserlichtern: Geschichten aus der Discommunity.

22. 9. 2016 - 10:20

Vom Buschenschank ins Studio 45

Am Freitag beginnt der steirische herbst 2016, und er setzt auch auf ein umfassendes Musikprogramm.

steirischer herbst

23.9. bis 16.10. 2016, Graz, Leibnitz, Leutschach, Allerheiligen bei Wildon

Mehr auch auf orf.at/steirischerherbst16

Zur Eröffnung des diesjährigen steirischen herbst am 23. September 2016 wird der französische Regisseur Philippe Quesne mit riesigen Maulwürfen vom Leben und Leid der Menschen erzählen. Wie gut, dass einer der Maulwurf-Darsteller, Thomas Suire, daheim in Paris eine Electropunkband namens Infecticide betreibt, die das Schwere ihrerseits mit dem Leichten aufwiegen. Die Kühle von Cold Wave wird bei Infecticide nämlich mit bunten Insektenkostümen und lustigen Texten konterkariert.

Eröffnungsfest mit Dorit Chrysler (US/AT), Infecticide (FR), 23.9., Helmut-List-Halle

"Mourir, c’est nul" - "Sterben ist scheiße" heißt eine ihrer Nummern, und ob die Maulwürfe aus dem Stück das genauso sehen, erfährt man spätestens nach der Eröffnungsproduktion in der Helmut-List-Halle, wenn Infecticide gemeinsam mit der österreichisch-amerikanischen Theremin-Zauberin Dorit Chrysler die Nacht zum Tag machen. Der Eintritt zu den Konzerten ist am Eröffnungsabend frei!

Artwork vom club panamur beim steirischen herbst 2016

Georg Klüver-Pfandtner & Stefan Beer

Extrem vielversprechendes Artwork aus dem club panamur

Der Club als gelebte Utopie, als safe space, als Ort, an dem die Vision einer in der Musik vereinten Gesellschaft aus verschiedensten Individuen für eine Nacht lang Wirklichkeit wird - das war schon zu Beginn der New Yorker Disco-Ära sowie rund um die Anfänge von Techno und House in Detroit und Chicago eine Idee, für die es sich zu kämpfen lohnte. Wenn sich für die Dauer des steirischen herbst 2016 das Grazer Orpheum in den club panamur verwandelt, zeigen sich die Grundpfeiler seiner Ausrichtung schon im Namen.

Flamingods, 6.10. club panamur / Orpheum Graz

Die Band Flamingods

Flamingods

Flamingods aus Bahrain/London

Unter dem schützenden Mantel der Liebe - amour - , des Allumfassenden der Silbe Pan-, dem lokalen Bezug zur Mur und eines Sehnsuchtsortes namens Panama treffen karibische und arabische Klänge auf postkoloniale Musik aus Portugal oder Berlin, äthiopischer Funk auf Schweizer-Nepalesischen Rave-Schamanismus, Pop auf Cold Wave, Singer-Songwritertum auf Psychedelik. Die Besucher gelangen von einem Buschenschank über eine riesige Zunge in eine glitzernde Disco und wenn sie dann immer noch nicht genau wissen, wo sie sich befinden, ist das umso besser.

Gestaltet wurde der club panamur von dem Künstler Georg Klüver-Pfandtner und dem Architekten Stefan Beer; das Musikprogramm hat der deutsche Musiker und Autor Norman Palm zusammengestellt. In seinem Lineup hat er sich vor allem auf die Silbe "Pan" aus panamur gestürzt, also auf das Allumfassende, und so ist kaum ein musikalischer Act beim diesjährigen steirischen herbst einem Gerne oder gar einem Herkunftsland eindeutig zuzuordnen. Die Psychedelik-Folk-Pop-Band Flamingods wurde 2009 in London gegründet, besteht aber zu großen Teilen aus Musikern aus dem Königreich Bahrain, von wo aus heute auch die hauptsächlichen Fäden gespannt werden. In ihren Songs bringen Flamingods afrikanische Polyrhythmik mit Folk, asiatischen Instrumenten, Field Recordings und vernebeltem Pop zusammen.

Aïsha Devi & Dis Fig (USA/CHINA), 2.10. club panamur / Orpheum Graz

Anm.: Die tolle Dis Fig spielt am Donnerstag, 22.9. auch in Wien bei einer der Afterpartys der Parallel Vienna in der Alten Post in Wien

Aisha Devi

Emile Barre

Aïsha Devi

Aïsha Devi hingegen heißt mit vollem Namen Aïsha Devi Enz, denn sie stammt halb aus Nepal und halb aus der Schweiz. In letzter Zeit hierzulande ein gern gesehener Gast auf Avantgarde-Festivals wie dem Heart of Noise, der Ars Electronica oder eben dem steirischen herbst, singt Devi sich und das Publikum in einer beeindruckenden Show mittels nepalesischer Kehlgesänge in Trance, während Beatgewitter durch den Saal zucken.

Kuenta i Tambú/ Sarah Farina, 24.9. club panamur / Orpheum Graz

Dass die öde frühere Definition von "Weltmusik" seit mindestens myspace-Zeiten überholt ist, beweist im club panamur außerdem beispielsweise die Band Kuenta i Tambú, "Geschichten und Trommeln", die den Bogen von Amsterdam und Berlin aus quer über den Erdball zu ehemaligen holländischen und spanischen Kolonien in der Karibik spannen. Global Bass, wie er in den letzten Jahren via Diplo, M.I.A. & Co Eingang in die weltweiten Charts gefunden hat, schließt bei Kuenta i Tambú den Kreis zu seinen Wurzeln.

Moddi / DJs Marmo & Harmlos, 25.9. club panamur / Orpheum Graz

Moddi mit Gitarre

Joergen Nordby

Moddi

Der Singer-Songwriter Moddi aus Norwegen, der in der Nacht darauf auf dem Programm steht, ist nur scheinbar sanfter und behutsamer unterwegs, denn die Songliste seines aktuellen Albums "Unsongs" besteht ausschließlich aus Liedern, die in bestimmten Teilen der Welt verboten sind oder waren. "Punk Prayer" von Pussy Riot wird unter Moddis Händen ebenso zur nordischen Ballade wie Billie Holidays herzzerreißendes Denkmal gegen rassistische Lynchjustiz "Strange Fruit", das zur Zeit der Apartheid in Südafrika auf dem Index stand.

DJ Nigga Fox (AO), DJ Firmeza (PT), Nidia Minaj DJ (PT), 14.10. club panamur / Orpheum Graz

Der Abend des 14.10. steht im club panamur im Zeichen von Príncipe Discos, jedem Lissabonner Label, das unter der umsichtigen Leitung von DJ Marfox in den letzten Jahren den Sound der europäischen Dancefloors zu einem globaleren geformt hat. Auch in Portugal hat die frühere Geschichte der Kolonialisierungen eine buntgemischte Gesellschaft geschaffen, die ihre musikalischen Traditionen aus Angola, der Karibik und den europäischen Clubdancefloors zu einer explosiven Mischung mit dem Namen Batida verschmilzt.

Perera Elsewhere,
live/visuals (DE/GB)
Anschließend disko404, DJs (AT), 13.10., club panamur / Orpheum Graz

Perera Elsewhere

Sasha Perera

Perera Elsewhere

"40% Trip Hop, 20% London, 20% Sri Lanka, 20% Berlin" sagt das steirische herbst-Programm über Perera Elsewhere, die früher im Trio Jahcoozi die bpitch control-Familie um eine bassschwere, trippy Popband erweiterte und heute solo im Dienste ambientöser, digitaler Popmusik voller Nebelschwaden unterwegs ist.

Längst hat man noch nicht alles durchgehört aus dem Programm. Es gibt eine Heterocetera-Nacht (30.9.) mit Lotic, Kablam und Why Be, ein Gastspiel des ägyptischen Kollektivs Kairo is Koming (8.10.), bei dem die DJs Bosaina, Ismael,
NAA, Hussein Sherbini, $$$TAG$$$ und Zuli die ägyptische Underground-Clubmusikszene in einer kollektiven Live-Show vorstellen und einen Abend (15.10.), an dem der äthiopische Keyboarder Hailu Mergia im Jazz-Trio seine erfolgreichen Konzertnächte aus dem Addis Abbeba der 1970er auferstehen lässt. Außerdem kommt das japanische Industrial-Duo Group A nach Graz (29.9.).

Demi Broxa

Lisi Charwat

Demi Broxa

Wie die hochgeschätzte Kollegin Maria Motter bereits hier erörtert hat, werden der Nino aus Wien und Natalie Ofenböck ihr neues, "Grünes Album" an gleich mehreren Abenden beim steirischen herbst vorstellen. Außerdem gibt es noch das Musikprotokoll, ein Festival im Festival, bei dem auch klassische Werke wie Schuberts "Winterreise" einen Sprung in die Gegenwart unternehmen. Blixa Bargeld tritt dort ebenso auf wie das Experimental-Elektronik-Duo Demi Broxa aus der Stimmkünstlerin Agnes Hvizdalek und dem Elektro Guzzi-Bassisten Jakob Schneidewind.

Betrachtet man die Lineups einschlägiger Festivals vom Kremser Donaufestival bis zum Londoner Field Day, der Berliner ctm oder Atonal oder dem Krakauer Unsound, stechen einem in den letzten Jahren vermehrte Überschneidungen der Programme ins Auge. Wir wollen dies aber nicht als die Gründung eines tunnelhaften Kanons unter dem Blick europäischer KuratorInnen auffassen, sondern als Zeichen für das Zusammenrücken der Welt, in der lokale Musikphänomene endlich einen einfacheren Weg ins weltweite Bewusstsein finden können und in der die "Verschiebung kultureller Kartografien", die sich der steirische herbst zum Motto gemacht hat, etwas Positives für alle heißen kann.