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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

13. 9. 2016 - 14:36

"Prinz, Narr und Funkmariechen zugleich"

Wie ist das, wenn die Welt korrespondiert, wie nie zuvor? Thomas Melle erzählt in "Die Welt im Rücken" grandios von seiner bipolaren Störung.

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    "Ich habe das nicht geschrieben, um mich selbst zu therapieren. Dann hätte ich auch ein Tagebuch schreiben können", sagt Thomas Melle. Und er trifft damit und mit "Die Welt im Rücken" den Kern von Literatur. Denn großartige Literatur vermag es, einem beim Lesen die Welt, die Menschen und die Wahrnehmung ganz nahe zu bringen. Und die Welt, die kann sich einem ohne Vorwarnung drehen und sich von bis dato ungeahnten, komplett unbekannten Seiten zeigen. Es gibt Zustände, die einem für gewöhnlich nicht zugänglich sind.

    Der deutsche Autor Thomas Melle erzählt in seinem neuen Buch "Die Welt im Rücken" von seiner bipolaren Störung. Wobei er auf den ersten Seiten klarstellt, dass es die alte Bezeichnung "manisch-depressiv" für die psychische Erkrankung besser trifft als die "verniedlichende" neue. Auf manische Schübe folgt die "Minussymptomatik", die Depression. Schonungslos zu sich ist Thomas Melle in diesem Buch. Das ist, so hart es klingt, gut so.

    Thomas Melle

    Dagmar Morath

    Thomas Melle ist mit seinem Buch "Die Welt im Rücken" für den Deutschen Buchpreis 2016 nomininert.

    Bipolar?
    Es gibt verschiedene Formen der psychischen Erkrankung, die noch vor einigen Jahren allgemein als "manisch-depressiv" bezeichnet wurde. Die schwere Form Bipolar I, Bipolar II, Rapid Cycling, Zyklothymia, Mischformen. Zuschreibungen sollten den erkrankten Menschen und ihren behandelnden Ärzten vorbehalten sein.

    "Der Kranke ist, genau wie der Terrorist, aus der Ordnung der Gesellschaft gefallen, gefallen in einen feindlichen Abgrund des Unverständnisses. Und er ist sich sogar selbst nicht verständlich, grausamerweise", heißt es im Prolog. Existentieller geht es nicht. Aber nicht zurückschrecken! All das, was man in "Die Welt im Rücken" erfährt, geht ans Herz. Auch wenn der Sex mit Madonna im Kopf stattfand, Björk auch dort sang, Schlingensief kannte ihn wirklich und immer wieder waren da doch noch tatsächliche Freunde.

    Viel mehr als eine gute Geschichte

    Es verhält sich wie bei bei vielen psychischen Erkrankungen: Von außen betrachtet, könnte man zynisch von einer sehr, sehr guten Geschichte sprechen. "Buh, ja, aber ich hätte auf die Geschichte gerne verzichtet", sagt der deutsche Autor Thomas Melle beim Interview in seiner Wohnung in Berlin.

    Wie hat er dieses Buch geschrieben? "Ich hatte meinen Schutzanzug an, wie ich das nenne: Ich hatte den Erzählmodus. Und damit bin ich in die Erinnerungen wie in Filmkulissen hineingegangen und konnte dann wieder nachempfinden. Mir sind Dinge wieder eingefallen. Manche Dinge habe ich zeitlich verschoben oder nicht genau zugeordnet. Also ich habe versucht, es nachzubauen und es dadurch lebhaft und erzählbar zu machen und auf eine gewisse Weite eine Struktur hineinzubringen und es auch für andere begehbar zu machen. Denn für andere es ist ja ein sehr unheimlicher Bereich, der überhaupt nicht verständlich ist. Indem ich es als Geschichte erzähle, hoffe ich, in diese dunklen Gefilde – ja, sogar – ein Licht der Aufklärung hineingeworfen zu haben."

    A hand in your darkness so you won't be afraid

    In der Popkultur ist ein "dunkles Geheimnis" einer Person oft Thema oder auch die "darkness", die besungen wird. Oft seien es auch Selbststilisierungen, wenn jemand sage, er habe ein dunkles Geheimnis und ließe es nicht heraus, sagt Thomas Melle: "Ich finde das interessant bei bestimmten Personen, wenn sie damit spielen. Für mich war hier eine möglichst große Klarheit vonnöten jetzt mal. Weil mit darken Elementen und so ein bisschen sinistren und mysteriösen Elementen habe ich ja schon in meinen Büchern davor gespielt. Das ging für mich nicht mehr. Ich musste jetzt einmal sagen: Ground Zero. Alles auf Null. Bitte, hier ist die Geschichte. Es war für mich total notwendig, jetzt die Ebenen ineinanderzuschieben und zu sagen, das bin ich und so sehe ich das. Es ist natürlich trotzdem auf gewisse Weise irgendwo Fiktion, weil jede Erinnerung fiktive Elemente hat. Ganz klar."

    Ein Seiltänzer ist am Cover zu "Die Welt im Rücken"

    Rowohlt Berlin Verlag GmbH

    Thomas Melle: Die Welt im Rücken. Rowohlt: Berlin 2016. Hier kannst du hineinlesen

    In "Welt im Rücken" kommt die Dunkelheit als alleiniges Bild gar nicht vor. Es gibt beeindruckend viele, höchst präzise Beschreibungen der einzelnen Zustände und was sie für ein Leben und den Alltag bedeuten. Weitestgehend verzichtet Thomas Melle auf medizinische Fachsprache. Die erläuternden Betrachtungen über den Depressiven, den Maniker und "den zwischenzeitlich Geheilten" waren schon vor einigen Jahren entstanden. 1999, 2006, 2016 markieren die Jahre der manischen Schübe und die Struktur des Buchs. "Es ist ein Signum der Krankheit, dass sich die Dinge wiederholen. Jeder Schub wurde immer schlimmer, auch mit immer ruinöseren Folgen."

    Die Wirkungen sind fatal. Als "Prinz, Narr und Funkmariechen" zugleich fühlte sich Melle und über den Wahnsinn schreibt er, dass dieser kein "Zustand" sei, sondern "ein Vorgang". Die unvorstellbare Erfahrung, das Selbst verloren zu haben, fasst Thomas Melle in Worte ("Theoretisch ein Konstrukt, praktisch aber eine ganz verlässliche Leitfunktion, war das Ich weg, zerstört, genullt."). Beim Aufenthalt in der Psychiatrie schreibt er sich das Mensch-Sein ab: "Ich sitze da und bin ein Gegenstand." Historische Jahreszahlen "sendeten" zu ihm, er verglich, was sich vor einhundert Jahren getan hatte oder dachte Jahrestage ineinander. Und selbst die Sprache und die Buchstaben entzogen sich ihm zeitweise. "Die einfachsten Sätze logen. Sie täuschten den Wirklichkeitsbezug, den sie zu haben schienen, nur vor. Zahlen waren Codes, Sätze Chiffren. Selbst die Rechnungen dachten und sprachen um die Ecke. Ich legte mich flach auf den Boden", liest man etwa an einer Stelle.

    Für einen Autor muss das umso mehr der Verlust der Kontrolle gewesen sein. "Genau", antwortet Thomas Melle, "ich habe es semantischen Wahn genannt. Wahn auf der Ebene der Bedeutungen und der Zeichenverweisungen. Weil dann nichts mehr und auch die Sprache nicht mehr so funktioniert, wie sie vorher funktioniert hat. Ich habe plötzlich in allem Metaphern gesehen, aber falsche Metaphern. Oder alles hatte riesige Zeichenzusammenhänge, die sich auch immer ständig verschoben haben, und ich konnte es, ohne mir dessen bewusst zu sein, irgendwie steuern. Ja. Das ist ein sehr sprachlicher Wahn erst mal, der von einzelnen Wörtern und Sätzen ausging und sich dann auf das ganze Leben und die Stadt und die ganze Welt ausgeweitet und sich über alles gestülpt hat."

    Aus seinem Buch könnte man so sehr viele Passagen zitieren. Denn Thomas Melle gelingt, was bei der Auseinandersetzung mit psychischen Erkrankungen und auch bei der Auseinandersetzung mit Persönlichkeitsstörungen kaum gemacht wird: das tatsächliche Erleben erzählen. Und das weder voyeuristisch noch permanent wertend. "Die Welt im Rücken" hat keinen dunklen Kitsch oder eine Verklärung dieser Zustände. Melle macht nichts Mystisches daraus.

    Leseempfehlungen und Interviews mit AutorInnen auf fm4.orf.at/buch

    Medizinische Bücher listen Kriterien auf, die bipolare Störungen betreffen. Aber was sie konkret im Alltag bedeuten, ist für viele völlig unzugänglich und unzulänglich. "Ja, ich hatte es darauf angelegt, nicht effektvolle Horrorliteratur daraus zu machen und mich selbst oder den Verrückten zu stilisieren, zu dämonisieren oder zu glorifizieren; es völlig scary und mysteriös zu machen; sondern fast mit einem medizinischen Blick, aber mit poetischen Mitteln auf mich selbst und auf die Zusammenhänge und den ganzen Komplex zu schauen. Das war das Projekt."

    Weiße, männliche Heteroseelen

    Es fällt auf, dass immer mehr männliche Autoren sich in autobiografischem Schreiben den sehr schwierigen Phasen in ihrem Leben stellen oder diese zum Thema machen. "Es ist schon klar: Es gibt gerade eine Welle von diesen weißen, männlichen Heteroseelen, die strippen", stimmt Melle zu. "Alle Szenen in dem Buch gruppieren sich um den Themenschwerpunkt der Krankheit. Deswegen habe ich so viel aus Kindheit, Jugend und teilweise auch aus Beziehungen weggelassen. Das Buch hat schon eine Funktion. Also nicht, dass ich nackt in einem Psychiatrie-Raum stehe und den Urschrei von mir lasse. Von da her würde ich mir etwas großkotzig anmaßen, dass sich das Buch doch von Büchern wie Knausgårds unterscheidet."

    FM4 Auf Laut: Ich bin König und ich liebe euch alle!

    Eine bipolare Disposition kann sich toll anfühlen. Umso schwerer fällt die Einsicht, dass man krank ist. Christian Schädel, Chef des Mehrzweck-Wohnzimmers und Cafés Phil in Wien, lebt seit acht Jahren mit der Diagnose "manisch-depressiv" und erzählt bei Elisabeth Scharang in FM4 Auf Laut, warum er sich seine Manie nicht schlecht reden lässt.

    Heute, Dienstag, 13.9., ab 21.00 Uhr in FM4 Auf Laut

    Dass "Die Welt im Rücken" doch auch für den Autor selbst einen befreienden Effekt hat, wolle er bestimmt nicht von sich weisen, sagt er und schmunzelt. Am Ende des Buches wird das sehr schön deutlich. Und das ist kein Spoiler, denn es hat knapp 350 Seiten. Wenn sich die Krankheit jemals wieder bemerkbar machen würde, schreibt er, wünscht er sich, dass jemand ihm sein Buch in die Hand drückt. "Ja. Das ist einerseits ein fast fingierter Glaube an so einen Zauberbann. Andererseits denke ich, wenn ich das dann lese und denke, 'ach so, so ist das', dann könnte mich das vielleicht wieder runterholen, erden und zeigen: Nein, nein, das ist wirklich Quatsch, was gerade los ist. Aber ich hoffe ja eh, dass ich der zwischenzeitlich Geheilte, der ich bin, hoffentlich bis zum Ende sein werde. Ich denke nicht, dass mich das Buch triggern, sondern eher wieder einfangen könnte."

    Zurzeit arbeitet Thomas Melle an einem Drehbuch. Sein Roman "Sickster" spielt dabei eine Rolle. Wird jetzt Platz in seiner Literatur für andere Gebiete?
    "Mal sehen. Vielleicht bleibe ich ja doch hängen an halb autobiografischen Dunkelheitsepen! Aber an sich denke ich, hier ist jetzt etwas abgeschlossen. Vielleicht ist da eine neue Freiheit und ich kann eine noch breitere Klaviatur bedienen. Mal sehen. Ich fühle mich gerade so leicht. Es hat so etwas Lichtes gerade." Es ist September und es ist Hochsommer in Berlin, die Luft ist 31 °C warm. Und Thomas Melle besteht darauf, dass er interviewenden Gästen Mineralwasser einschenkt. Egal, dass man das lustige Sprudeln in Flaschen immer nach Hause schleppen muss.