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Martin Pieper

radio FM4

Martin Pieper

Ist Moderator und Chefredakteur von seinem Lieblingssender. Hat sein Hobby zum Beruf gemacht.

17. 1. 2012 - 17:06

Hysterie statt Melancholie

Thomas Melles "Sickster" ist schon wieder ein Berlin- und Poproman mit Drogen, Clubs und Tralala. Die Lektüre lohnt sich trotzdem.

Das mit dieser „Generation Berlin“ wird auch nicht leichter. Es ist ja als nicht-dorthin-Ausgewandeter fast schon Pflicht, sich zu dieser Stadt positionieren.

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Egal sind die Mitte-Mütter und Neukölln-Hipster, Berghain-Touris, Kreuzberg-Spießerpunks und Ficken3000-Homos jedenfalls niemandem, zumindest keinem und keiner aus der jüngeren Autorengeneration Deutschlands. In den entsprechenden Erzählbänden, Blogeinträgen, Romanen und journalistischen Arbeiten wird meistens die Ausschweifung, das Rauf- und Runterkommen von diversen Drogen gegen die Ödnis des Erwerbslebens ausgespielt.

Mit „Sickster“ hat Thomas Meller einen Roman geschrieben, der eigentlich alle diese Klischees bedient, und trotzdem auf eine angenehme Art unverdaulich bleibt.

Hysterie statt Melancholie

Thomas Melle

Karsten Thielker

Thomase Melle, 1975 geboren, ist bisher vor allem als Übersetzer und Theaterautor aufgefallen.

Sickster erzählt aus den wechselnden Perspektiven zweier Hauptfiguren. Magnus Taue ist Journalist mit ehemals idealistischem Anspruch, der sich bei der Kundenzeitung eines Mineralölkonzerns als Lohnschreiber verdingt. Sein ehemaliger Schulkollege aus Bonn, Thorsten Kühnemund, arbeitet bei eben diesem Konzern und macht Karriere in der Zentrale, indem er die „Partner“ (also Tankstellen) mit ausgeklügelten Raumkonzepten zur richtigen Platzierung („Space Management“) von Energydrinks versorgt. Beide sind nicht mehr ganz jung, aber immer noch nicht alt genug, um sich nicht doch den einen oder anderen Absturz in (gottseidank nicht näher genannten) Clubs zu gönnen.

Bonner Adel

Das Milieu des Romans ist die ältergewordene Jeunesse Doree Westdeutschlands, rich kids mit guter Ausbildung und noch besserer Familie, die es sich mittlerweile wahlweise in der spießig-reaktionärer Watte des ererbten Wohlstands gemütlich gemacht haben, oder sich in der Leere des ewigen Hedonismus verlieren. "Bonner Adel" nennt Autor Thomas Meller seine Figuren an einer Stelle des Buches. Das Personal ist also so etwas wie die älter gewordenen Protagonisten aus Christian Krachts berühmten Debütroman "Faserland" aus den 1990er Jahren. Während bei Kracht aber noch eine sanfte Melancholie das Faserland durchweht, stehen die Zeichen in Thomas Melles „Sickster“ auf Hysterie. So wie sich die Romanfiguren immer mehr am modernen Imperativ der Selbstoptimierung verausgaben, wird auch die Sprache des Romans wilder, zügelloser, hakenschlagend. Und es ist die Sprache, der Text und weniger der Plot, der dieses Buch locker über den Durchschnitt der allgegenwärtigen Hipster-Lektüre hebt.

Cover zu Thomas Melles Buch "Sickster"

Rowohlt Verlag

Thomas Melle: Sickster ist
2011 bei Rowohlt, Berlin erschienen.

Psychiatrie als Utopie

Die postmodernen Erzählstrategien, die Vielstimmigkeit und das gleichzeitige Verzweifeln am Zuviel der Optionen, das hat David Foster Wallace meisterhaft vorgemacht. Dessen Methode der Kritik an der modernen Warenwelt schimmert mitunter auch in "Sickster" durch. Thomas Melle schafft eine wunderbar genaue Beschreibung der marketingschlauen Arbeitswelt, in der schon fast alles für den Konsumenten mitgedacht wird.

Die Tankstelle zeitgenössischen Zuschnitts sieht man jedenfalls mit neuen Augen, wenn man das Buch gelesen hat. Die Überfülle führt bei "Sickster" in die Manie und schlussendlich in die Psychiatrie. Als utopischen Ausweg bietet Thomas Melles den symbolischen Aufstand „der Irren“ an. Das klingt ein bisschen nach einer Mischung aus „Einer flog übers Kuckucksnest“ und den Antipsychiatrie-Bewegungen der 70er Jahre, führt den Roman aber weit über die Grenzen der überschlauen Popliteratur hinaus, trotz überflüssiger Songzitate am Eingang jedes Kapitels. Ich habe ja noch nie verstanden, warum Autoren mit Einzeilern von Arcade Fire oder Nine Inch Nails hausieren gehen müssen. Und wenn wir schon beim Nörgeln sind: der allerletzten Satz (er besteht nur aus zwei Wörtern) wäre auch nicht notwendig gewesen. Die 330 Seiten davor machen das aber mehr als wett.