Erstellt am: 29. 8. 2016 - 12:53 Uhr
Aus Trümmern auferstehen
Wenn man vor den Trümmern der eigenen Existenz steht, kann man den Kopf in den Sand stecken. Man kann sich aber auch überlegen, was man aus diesen Trümmern retten kann bzw. was man mit diesen Trümmern denn eventuell anstellen könnte. Simone Hirth lässt die namenlose Protagonistin ihres Debütromans "Lied über die geeignete Stelle für eine Notunterkunft" von Variante A zu Variante B wechseln.
Herkunftsverlust
Kremayr&Scheriau
Mit Mitte 20 verliert die Protagonistin, eine Fleischerstocher, ihre Eltern. Sie hat nicht wirklich Lust, den Betrieb weiterzuführen, noch laufende Rechnungen zu begleichen, sodass die Fleischerei zwangsläufig in den Konkurs schlittert. Davon ist auch das elterliche Haus betroffen, das zwangsversteigert und abgerissen wird. Womit allerdings niemand gerechnet hat: Die Fleischerstocher hat ihr Zuhause nie verlassen. Zusammen mit einem toten Maulwurf sitzt sie im zerstörten Keller des ehemaligen Hauses, bis ihre letzten Vorräte aufgebraucht sind. Briefe an ihren fernen Bruder und ihre Tante bleiben unbeantwortet.
Erst ein "Handbuch der Betriebswirtschaft", das sie im Schutt findet, gibt ihr den Anstoß, ihr Kellerversteck zu verlassen und liefert ihr Strategien, um ihrer Misere zu entkommen. Die erste Entscheidung, die sie trifft ist, eine Notunterkunft zu errichten.
Wiederaufbau und Selbstverwaldung
Diese Notunterkunft wird fortan zum DIY-Projekt der Protagonistin: Am Stadtrand, hinter einer Hecke aus Hagebuttenstauden, entsteht nach und nach ihr neues Heim. Das Material dafür sucht sie sich aus den Trümmern des Elternhauses zusammen oder klaut fleißig im Baumarkt. Essen zieht sie selber in einem kleinen Garten oder dumpstert in den Müllcontainern der Supermärkte. Doch als ihr idyllisches Hüttchen im Wald fertig ist, wird sie von Unbekannten angefeindet. Man will sie hier draußen nicht haben. Und dann kommt auch noch der Winter.
Bloßgelegte Lebensentwürfe
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Simone Hirth, die am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert hat und nun im Wienerwald lebt, lässt ihre Protagonistin mit einer leicht naiven Haltung auf die Welt los, was ihr ein paar Probleme, den Lesern aber viele lustige Momente beschert. Mit einfachen Alltagsbeobachtungen und Dialogen entlarvt sie Stehsätze, oder legt ganze Lebensentwürfe bloß. Die Vorstellung von der monogamen Zweierbeziehung verflüchtigt sich etwa mit aufgeschnappten Baumarktgesprächsfetzen oder die Idee Karriere machen zu müssen in einem paternalistischen Vortrag eines älteren Herrn.
Vor allem sprachlich überzeugt Simone Hirths Debütroman und erinnert in weiten Teilen an die Prosa von Büchner-Preisträgerin Felicitas Hoppe. Heiter und verspielt kombiniert Hirth Ansichten der Protagonistin mit aufgeschnappten Gesprächen, skurrilen Zeitungsschlagzeilen, Inventurlisten und Zitaten aus ebenjenem "Handbuch der Betriebswirtschaft", das zu allen Lebenslagen Weisheiten und Definitionen bereithält, ob zu Entscheidung, Motivation, Verlust, Liebhaberei oder Bedürfnissen.
Selbstfindung statt Karriereplanung
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Von Letzteren hat die Protagonistin immer weniger und mit großer Freude macht sie sich auch von ihren letzten Besitztümern frei. So wird "Lied über die geeignete Stelle für eine Notunterkunft" zu einem Roman über Karriere- und Konsumverweigerung, Selbstfindung und -ermächtigung. Einzig das Ende des Romans ist ein wenig zu simpel gestrickt, aber dafür hat uns Simone Hirth schon zuvor mit vielen Lachern und gelungenen Wortspielen entschädigt.