Erstellt am: 18. 7. 2016 - 16:01 Uhr
Der Putsch nach dem Putsch
Weit über 200 Tote und 1.000 Verletzte: Das ist die Bilanz eines Putschversuchs durch das Militär in der Türkei Freitagnacht. Nach Angaben der Regierung konnte der Umsturz abgewehrt werden. Präsident Recep Tayyip Erdogan kündigte Vergeltung an. Es gibt seit dem Putsch "Säuberungswellen" gegen Anhänger seines Erzfeindes Fethullah Gülen. Auch über die Wiedereinführung der Todesstrafe wird laut nachgedacht. Wie kam es zu dem Putschversuch und wie ist das einzuordnen, was jetzt in der Türkei passiert? Wir fragen Cengiz Günay vom Institut für Internationale Politik zur Situation in der Türkei nach dem Putsch.
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Es gibt in der türkischen Geschichte mehrere Militärputsche. War mit einem weiteren solchen Putsch früher oder später zu rechnen?
Cengiz Günay: Die wenigsten Beobachter haben jetzt mit einem Militärputsch gerechnet. Das Militär ist seit den Verfassungsreformen ziemlich entmachtet worden, auch angesichts des EU-Beitritts. Das Militär ist aus vielen zivilen Institutionen zurückgedrängt worden. Man ist eigentlich davon ausgegangen, dass es politisch nicht mehr den Einfluss hat, den es einst hatte. Dazu ist zu sagen, dass das Militär immer dann geputscht hat, wenn es eine gewisse politische Instabilität gab. Das ist nicht der Zustand, den wir jetzt haben. Das ist ja eine sehr starke Regierung mit einer sehr starken Führungsperson. Deswegen ist es noch überraschender gewesen.
Steht der Putschversuch am Freitag in der Tradition vergangener Militärputsche in der Türkei? Und ist das Militär wirklich der Hort der säkularen Kemalisten?
Cengiz Günay: Wir wissen noch immer nicht genau, was die Hintergründe waren, und werden es wahrscheinlich lange nicht erfahren. Es war in der Vergangenheit, vor allem 1960, so, dass die unteren Kader im Militär geputscht haben und damit die Generäle, die höheren Kader überrascht haben. Auch in diesem Fall war es nicht die Spitze des Militärs, sondern Leute mit niedrigeren Rängen. Alles deutet darauf hin, dass es eine sehr kleine Gruppe war, die recht stümperhaft vorgegangen ist. Es gibt Gerüchte, dass der Putschversuch voreilig passiert ist, weil der Geheimdienst Wind davon bekommen hat. Die Regierung war dann sehr schnell, die Gülen-Bewegung zu beschuldigen. Aber wie gesagt, das ist alles noch offen. Die Gülen-Bewegung war traditionell innerhalb des Militärs eher wenig präsent. Das heißt aber nicht, dass es nicht möglich ist, dass der Coup durch die Gülen-Bewegung initiiert wurde.
Präsident Erdogan macht vor allem seinen Erzfeind Gülen für den Putsch verantwortlich, einen religiösen Prediger. Wie passt das zum angeblich säkularen, kemalistischen Militär?
Cengiz Günay: Die Gülen-Bewegung ist eine nationalistisch-religiöse Bewegung, die seit den Neunziger Jahren immer größer geworden ist und v.a. durch einen Pakt mit Erdogan ab Beginn der 2000er Jahre, auch unter dem Schutz des Staates, enorm gewachsen ist und ihre Vertreter in die wichtigen Schlüsselpositionen des Staates platzieren konnte. Seit dem Bruch zwischen Regierung und Gülen erfolgt eine Hexenjagd. Es ist einfach, jemanden als Gülenisten zu diffamieren. Tausende von Staatsanwälte wurden versetzt, abgesetzt oder verhaftet - auch jetzt rollt eine Verhaftungswelle durch die Türkei. Es gibt eine gewisse Paranoia, dass hinter allem die Gülenisten stecken. Derzeit ist das ein willkommenes Mittel, um einen Schuldigen zu haben. Jemanden, den man beschuldigen kann, dass er hinter sämtlichen Entwicklungen in der Türkei steckt. Daran ist zu kritisieren, dass die Gülen-Bewegung ja erst durch die Zusammenarbeit mit der AKP so groß werden konnte!
Über 13.000 Suspendierungen
Nach dem Putschversuch gehen der türkische Präsident Erdogan und die Regierung hart gegen Gegner vor. Nach Armee und Polizei ist jetzt die Verwaltung Ziel der "Säuberungsaktionen". 30 der 81 türkischen Provinzgouverneure wurden aus ihren Ämtern entfernt. Insgesamt ließ die Regierung seit Samstag mehr als 7.500 Menschen verhaften (ORF.at).
Seit dem Putschversuch sehen wir nun eine fortgesetzte, beispiellose "Säuberungswelle" - am Wochenende gegen JuristInnen und Militärs, am Montag wurden 8.000 PolizistInnen suspendiert. So schnell, dass es Vermutungen gibt, es habe Listen mit unliebsamen GegnerInnen längst gegeben und Erdogan habe nur auf eine Gelegenheit gewartet, diese loszuwerden.
Cengiz Günay: Es gibt Kommentatoren in der Türkei, die vom Putsch nach dem Putsch sprechen. Diese Säuberungen sollen jetzt endgültig den Weg für ein totalitäres AKP-System öffnen. Und diese Befürchtungen sind nicht unbegründet. Das Problem in der Türkei ist aber, dass die Demokratie auch schon vor diesem Putsch einen Tiefststand erreicht hatte. Die Institutionen sind ausgehöhlt, der Geheimdienst und andere wichtige Organe im Staat sind so mit der AKP fast schon verschmolzen. In diesem Sinne gibt es kaum mehr unabhängige Institutionen. Deswegen ist der Verdacht da, dass es schon Listen gegeben haben könnte oder man schnell welche bereitet hat, wo man alle unliebsamen Leute in einen Topf geworfen hat.
Es gibt auch Verschwörungstheorien, dass Erdogan den ganzen Putsch überhaupt inszeniert habe, um genau diese "Säuberungen" etc. durchführen zu können. Was sagen Sie dazu?
Cengiz Günay: Diese Verschwörungstheorien sind deswegen so populär, weil es so eine große Unsicherheit gibt. In den letzten Jahren ist die Unabhängigkeit der Institutionen systematisch demontiert worden. Die Justiz steht im Verdacht, parteiisch zu sein. Die Untersuchungsorgane entscheiden fast nie so, dass es die Regierung in Schwierigkeiten bringt, auch die Regierung ist nicht selbstkritisch. Bislang ist kein einziger Minister zurückgetreten - oder andere Verantwortliche wie Polizeichefs, obwohl es genug Anlassfälle gab, allein schon die fürchterliche Terrorwelle, die die Türkei erfasst hat. Das nährt natürlich den Verdacht, dass dahinter etwas anderes stecken könnte. Dem kann man vonseiten der Regierung nur mit Transparenz etwas entgegensetzen - und die fehlt. Weil die Regierung intransparent agiert, nährt das solche Verdachtsmomente. Auch ich kann nichts vollkommen ausschließen, es ist eine Glaubenssache.
Halten Sie einen inszenierten Putsch für realistisch? Insgesamt hat der Putsch die Position Erdogans gestärkt und nicht geschwächt.
Cengiz Günay: Auch wenn er ihn nicht selbst inszeniert hat, ist er der größte Profiteur von diesem Putsch. Wenn es jemand anderer getan hat, dann haben sie ihm einen Riesengefallen getan. Weil es erlaubt ihm jetzt wieder, die breite Masse für eine Sache bzw. auch gegen etwas zu mobilisieren. Vermutlich wird es relativ bald Neuwahlen geben oder ein Referendum über ein Präsidialsystem - für beides ist die Atmosphäre geschaffen. Das hinterlässt einen unangenehmen Nachgeschmack: Man hat das Gefühl, es geht nicht um Demokratie, um Vielfalt und gegen ein Militärregime, sondern es geht um Erdogan und darum, ihn zu schützen und zu stärken.
Erdogan-AnhängerInnen haben sich am Samstag am Taksim-Platz zu Demonstrationen versammelt. Sie haben unter anderem "Allahu Akbar" gerufen. Ist die Türkei auf dem Weg zu einem islamistischen Staat?
Cengiz Günay: Die AKP ist eine äußerst pragmatische politische Bewegung, die Maßnahmen und Entscheidungen trifft, die nicht mit einem gewissen Islamismus vereinbar sind. Aber genau das fordert wieder stärkere islamische Botschaften, um die Basis der Partei an die Partei zu binden. Das heißt: Ja, es werden stärkere islamische Botschaften kommen. Ich weiß aber nicht, ob das eine Islamisierung der Türkei bedeuten würde, also auch das politische System vollkommen umzustellen. Wir erleben schon seit einiger Zeit einen wachsenden Konservativismus - nämlich einen durch den Staat propagierten Konservativismus! Das wird sicherlich so weitergehen. Und der Islam bietet auch die Möglichkeit, die wachsende Ungleichheit zu überdecken, indem man islamisch konnotierte Botschaften von Solidarität aussendet.
Es gab bei den Demos auch Rufe nach der Todesstrafe. Erdogan erwägt jetzt die Wiedereinführung der Todesstrafe, warum?
Cengiz Günay: Das halte ich für eine besonders gefährliche Entwicklung, die Forderung nach der Todesstrafe. Ich sehe das auch nicht so, dass das aus dem Volk heraus gekommen ist, sondern ich habe das Gefühl, dass das sehr bewusst durch die Regierung aufgegriffen worden ist. Da steckt ein anderes Kalkül dahinter. Die Forderung nach der Todesstrafe haben die Nationalisten in der Türkei schon lange gestellt, vor allem im Zusammenhang mit Terrorismus und mit der PKK. Das würde aus einer machtpolitischen Perspektive heraus die nationalistischen Stimmen, die ohnehin schon stark gebunden werden konnten aufgrund der harten Politik gegenüber der PKK, noch stärker an die AKP binden. Die AKP benötigt selbst in der jetzigen Konstellation des Parlaments nur wenige Stimmen, um eine Mehrheit zu haben, um die Verfassung zu ändern. Das kann in diesem Hinblick eine Rolle spielen. Ich fände die Wiedereinführung der Todesstrafe einen furchtbaren Rückschritt für die Türkei, schon der Putsch ist ein Rückschritt.
Die Abschaffung der Todesstrafe 2004 - die de facto seit 1984 nicht mehr vollstreckt worden ist - war ein Teil des Annäherungsprozesses an die EU. Wie sieht es eigentlich mit dem Verhältnis zur EU aus nach diesem Wochenende? Johannes Hahn, der EU-Erweiterungsminister, hat sich heute besorgt über die Lage gezeigt.
Cengiz Günay: EU und Türkei, das ist schon seit längerem ein schwieriges Verhältnis. Die Haltung der Türkei als Beitrittskandidat hat sich sehr unterschieden von anderen Beitrittskandidaten - auch die Haltung der EU gegenüber der Türkei hat sich von anderen unterschieden. Die Türkei hat sich immer als starkes, gleichwertiges Land gesehen und nicht als Land, das nur die Direktiven aus Brüssel erfüllt. Dieser Konditionalismus beim Beitritt ist dadurch in Frage gestellt worden, weil die hierarchische Beziehung von der Türkei infrage gestellt worden ist. Gleichzeitig kam von der EU bzw. den Mitgliedsstaaten die Botschaft: Ihr seid nicht gleichwertig. Das hat den Nationalismus in der Türkei und eine antieuropäische Stimmung begünstigt.
Nach den letzten Ereignissen sind die beiden fast in einer ähnlichen Situation: Die Türkei ist stark mit sich selbst beschäftigt, es geht darum, die inneren Dynamiken zu beruhigen. Die EU ist nach dem Brexit-Entscheid auch in einer ratlosen Situation. Ehrlicherweise will gerade niemand einen Türkei-Beitritt nach dem Austritt Großbritanniens - die ja die wichtigsten Verfechter eines Beitritts der Türkei waren. Gleichzeitig möchte man aber diesen Prozess nicht beenden, weil der Prozess wichtig ist, um die Türkei soweit wie möglich demokratisch und liberal an Europa zu binden. Jetzt ist aber die Frage: In welche Richtung entwickelt sich Europa? Wie liberal sind die einzelnen europäischen Mitgliedsstaaten? Wir sind mitten in einem Riesenumbruch und es ist sehr schwer vorauszusagen. Ich glaube, beide Seiten brauchen einander, können nicht aufeinander verzichten, aber sie driften sehr stark auseinander. <<
Ist die Türkei jetzt eigentlich schon ein totalitärer Staat? Und damit für die EU eigentlich nicht mehr haltbar als Bündnispartner - zum Beispiel beim Flüchtlingsabkommen?
Cengiz Günay: Die EU hat bisher überhaupt keine Probleme gehabt, mit autoritären Staaten zusammen zu arbeiten. Ganz im Gegenteil. Aus europäischer Sicht hört man immer wieder hinter vorgehaltener Hand, dass es vor dem Arabischen Frühling eigentlich besser war, weil man da noch Ansprechpartner hatte, die vor Ort die gewünschte Grenz- und Sicherheitspolitik umgesetzt haben. Ich würde das nicht als den Interessen der EU entgegengesetzt sehen. Das Problem ist, dass die EU ihre Abmachungen nicht einhält - und das nicht zum ersten Mal. Die direkte Aufnahme von Flüchtlingen aus der Türkei ist weit hinter den Zahlen, die man versprochen hat. Es stellt sich die Frage, wie lange die Türkei - wer auch immer an der Regierung ist - da mitspielt. Weil man sozusagen die Politik der EU outgesourct hat, aber die EU dabei ihren Verpflichtungen nicht nachkommt. Auch mit den Zahlungen ist man säumig. Das schadete dem Image der EU in der Türkei. Aber auch andere Nachbarstaaten werden sich überlegen: Wie sehr kann ich der EU vertrauen? Das heißt, es ist nicht nur die Frage, wie die EU mit anderen operieren kann, sondern immer mehr die Fragen der anderen: Wie weit kann ich diesem Verein überhaupt vertrauen?
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Cengiz Günay: Es gibt viele junge Menschen, die verzweifelt sind und keine Hoffnung sehen für ihr Land. Das ist ein sehr schlechtes Zeichen. Vor allem die gut Ausgebildeten, die Fremdsprachen sprechen und einen Universitätsabschluss haben - also genau das, was das Land für ein Fortkommen braucht - die sehen immer mehr die Hoffnung im Ausland. Und das nicht erst jetzt so, sondern eigentlich seit den Gezi-Protesten 2013. Sie gehen für einen Master oder ein Doktorats-Studium ins Ausland und versuchen dann zu bleiben. Sie stoßen allerdings in der EU oder den USA auf enorme Schwierigkeiten bezüglich Visa, Aufenthaltsgenehmigungen etc. Die einzigen, die gehen können, sind die, die es sich leisten können.
Was haben Sie persönlich gehört von Bekannten oder Freunden, die in der Türkei sind. Haben die Angst?
Cengiz Günay: Die Stimmung ist genauso geteilt, wie das Land geteilt ist. Jene, die ohne Wenn und Aber an Erdogan glauben, sehen das als einen Riesenerfolg der Demokratie. Andere, die der Regierung schon seit langem kritisch gegenüber stehen, sind sehr besorgt, in welche Richtung das geht. Sie bezweifeln, dass die Türkei vor dem Putsch noch eine Demokratie war, und befürchten, dass sie noch weniger eine sein wird. Das Land ist also noch tiefer gespalten als zuvor. Es sind ganz wenige, die einen Putsch gewünscht haben oder noch an einen Putsch glauben. Ich glaube, bei jenen, die der Regierung kritisch gegenüberstehen, ist jetzt Angst ausgebrochen. Auch wenn man sich die Bilder ansieht, von den Leuten, die Erdogans Aufruf gefolgt sind, wie sie junge Soldaten niedertreten und misshandeln. Das ist eine Türkei, die sie nicht wiedererkennen, die so voller Zorn und Wut ist und wo so viel Potenzial für Gewalt ist, das macht vielen Angst.