Erstellt am: 16. 7. 2016 - 11:17 Uhr
4 Fragen zum Putschversuch in der Türkei
Was passiert da?
Militärputsch in der Türkei
Mehr als 290 Tote in der Türkei
Erdogan erklärt Putsch für gescheitert, die Regierung habe die „vollständige Kontrolle“ zurück.
Alle aktuellen Entwicklungen im Live-Ticker von ORF.at und auf dem Twitter-Kanal von Ali Cem Deniz.
Hintergrund-Analyse von Ali Cem Deniz in der FM4 Morning Show und in FM4 Connected.
Alles fing gestern Abend mit auffälligen Hubschrauberflügen über Istanbul und Ankara an. Bald darauf sperrten Soldaten mit Panzern die Bosporus-Brücke und andere wichtige Straßen. Als eine sichtlich verängstigte Moderatorin im staatlichen Sender TRT eine Erklärung des „Rats für Frieden im Vaterland“ vorlas, war klar: es ist ein Putsch. Die Putschisten verhängten eine Ausgangssperre und verkündeten, dass Erdogan und die Regierung, die auf „verräterische Weise“ gegen die Verfassung verstoßen haben, zur Rechenschaft gezogen werden.
APA/AFP/ADEM ALTAN
Medien berichteten, dass Generalstabsschef Hulusi Akar, der für seine Anti-Putsch-Haltung und Regierungsnähe bekannt ist, unter Arrest gestellt wurde. Währenddessen erklärte Ministerpräsident Binali Yildirim über Telefonschaltungen im Fernsehen, dass die Regierung nicht zurücktreten wird und dass die „Sicherheitskräfte“ gegen die Putschisten vorgehen werden. Damit war klar, dass nicht die gesamte Armee hinter dem Coup steht.
Der stellvertretende Generalstabschef Dündar hat heute erklärt, das überall im Land Kommandanten von Putschisten gefangen genommen wurden. Zugleich sprach er von einer "historischen Solidariät" zwischen der Regierung, der Bevölkerung und Armee, die sich gegen die Putschisten gestellt hätten. Bei den Auseinandersetzungen sind mehr als 290 Menschen ums Leben gekommen.
Zu diesem Zeitpunkt hat sich der türkische Präsident im Hotel Marmaris aufgehalten. Kurz nachdem er das Gebäude verlassen hat, gab es einen Bombenanschlag auf das Hotel. In der Nacht noch hatte sich Präsident Erdogan zum ersten Mal mit Hilfe seines Smartphones an die Bevölkerung gewendet. Via Videoanruf bei CNN Turk hat er die Menschen aufgefordert, sich auf die Straßen und auf öffentliche Plätze zu begeben. Später folgte auch eine Pressekonferenz am Atatürk-Flughafen, der noch kurz davor von Soldaten besetzt war.
Erdogan über Facetime auf CNNTurk pic.twitter.com/FwcHtHP5o0
— Ali Cem Deniz (@alicem_deniz) 15. Juli 2016
Tausende Zivilisten folgten der Aufforderung, gingen auf die Straßen und protestierten gegen den Militärputsch. Immer wieder waren in der Nacht Schießereien und Explosionen zu hören. Erdogan macht den sogenannten „Parallelstaat“, der aus Mitgliedern der Gülen-Bewegung bestehen soll, verantwortlich. Der geistige Anführer der Bewegung, Fethullah Gülen, hat jedoch in einer ersten Reaktion den Putsch verurteilt und jede Verantwortung dafür zurückgewiesen.
Was ist die Gülen-Bewegung?
Eine religiös-politische Gruppe, die dem in den USA im Exil lebenden Prediger Fethullah Gülen folgt. Dieser lebt seit 1999 in Amerika, weil ihm bereits damals vorgeworfen wurde, mit seiner Bewegung den türkischen Staat zu unterwandern.
Im Exil hat der Prediger seinen Einfluss in der Bürokratie, im Sicherheitsapparat und in den Medien ausbauen können.
Aus diesem Grund hatten Erdogan und die AKP, die 2002 mit einem Erdrutschsieg an die Macht kamen, aber sonst nicht viel Rückhalt im Staat und in den Medien hatten, eine Koalition mit der Gülen-Bewegung geschlossen. Obwohl beide Gruppen aus dem islamisch-konservativen Lager stammen, standen sie sich distanziert gegenüber. Doch sie hatten gemeinsame Feinde: die Armee und die säkular-kemalistischen Eliten, also die Anhänger von Staatsgründer Atatürk.
Wie ist es zum Bruch mit der AKP gekommen?
Je mächtiger die AKP wurde, desto sichtbarer wurden die Differenzen mit der Gülen-Bewegung. Mit dem Verfassungsreferendum von 2010 hatte die Regierung Militärinterventionen verboten. Bis dahin konnte die Armee „legal“ putschen. Die immer noch aktuelle Verfassung wurde 1980 von der Militärjunta eingeführt und gab der Armee enorme Befugnisse. Knapp 58 Prozent der Bevölkerung stimmte damals für die Einschränkung dieser Sonderrechte. Die AKP hatte so viel Rückhalt wie nie zuvor.
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Seit der Einführung des Mehrparteien-Systems gab es in der Türkei vier große Militärinterventionen. 1960 gegen die erste gewählte Regierung. 1973 folgte ein weiter Putsch. 1980 übernahm die Junta erneut die Kontrolle und gab per Verfassung dem Militär eine besonders große Rolle in der Politik. 1997 wurde mit einem „sanften Putsch“ ohne Blutvergießen erneut eine Regierung abgesetzt.
2012 kam es dann zum ersten öffentlichen Konflikt zwischen der Regierung und dem „Parallelstaat“. Die Staatsanwaltschaft wollte den Geheimdienstchef Hakan Fidan verhören. Fidan führte im Auftrag der AKP-Regierung seit 2009 in Oslo geheime Friedensverhandlungen mit der kurdischen PKK. Gülen-nahe Medien, die bis dahin Erdogan den Rücken stärkten, äußerten sich immer kritischer zum Friedensprozess. Der Regierung wurde vorgeworfen, die territoriale Einheit des Landes zu gefährden. Die Regierung bezeichnete die Ermittlungen gegen Fidan als Putschversuch, aber vorerst beruhigte sich die Lage.
Bis zum 17. September 2013, als Polizisten bekannte Ministersöhne und Bankenmanager verhafteten. Am 25. Jänner 2014 folgten weitere Operationen. Die Ermittler warfen Erdogan und seinen Regierungsmitgliedern Korruption im großen Stil vor. Obwohl viele damals an die Vorwürfe glaubten, war auch wieder hier klar, dass es vordergründig um den Kampf Gülen vs. Erdogan geht. Die Regierung bezeichnete die Ermittlungen erneut als Putschversuch und bekämpft seither den „Parallelstaat“ aufs Schärfste.
Tausende Personen in der Bürokratie, im Justizwesen und in der Polizei wurden seither entlassen oder verhaftet. Nur in der Armee blieben große Operationen aus. Im August tagt der „Hohe militärische Rat“ der türkischen Armee. Dieses Jahr wurde erwartet, dass Gülen-nahe Offiziere zwangspensioniert werden. Es kann sein, dass die Putschisten deshalb jetzt zuschlugen.
Wie geht es weiter?
Alle Oppositionsparteien verurteilen den geplanten Militärputsch. Darunter auch prominente Erdogan-Gegner wie Can Dündar, der selbst vor kurzem wegen Geheimnisverrat inhaftiert wurde.
APA/AFP/YASIN AKGUL
Weiterlesen
Der Putsch nach dem Putsch
(18. Juli 2016)
Politikwissenschaftler Cengiz Günay im Interview mit Irmi Wutscher über die Türkei, drei Tage nach dem Putschversuch. Warum Gülen verantwortlich gemacht wird, wie die Verschwörungstheorien zu bewerten sind und was die "Säuberungswellen" für das Verhältnis zur EU bedeuten.
Exklusive Mahnwachen für die Demokratie
(18. Juli 2016)
In der Türkei feiern Erdogan-Anhänger_innen gerade die Abwehr des Putschversuchs und vor allem ihren Präsidenten. Allerdings ohne jene, die sich sonst im Land für mehr Demokratie einsetzen. Ein Kommentar von Can Gülcü.
Die Ansicht, dass die vier Militärinterventionen sowohl die wirtschaftliche Entwicklung, als auch die Demokratisierung der Türkei enorm beschädigt haben, ist quer durch alle politischen Lager verbreitet. Dass sich so viele Leute auf den Straßen und auch Politiker und Medien öffentlich gegen die Putschisten stellen, ist neu.
Die gespaltene Gesellschaft, die trotz heftiger Terrorattacken keine Einheit finden konnte, scheint sich jetzt geschlossen gegen die Putschisten zu stellen. Neu ist auch die autonomere Rolle der Polizei. Sie wurde in den letzten Jahren von der Regierung zunehmend aufgerüstet und mit neuen Befugnissen und Kompetenzen ausgestattet. Das Eingreifen der Polizei war eines der größten Hindernisse für die Putschisten in den vergangenen Stunden.
APA/AFP/OZAN KOSE
Die Verdrängung des Militärs aus der Politik war neben dem Friedensprozess eine der größten Versprechen von Erdogan. Kurzfristig könnte er seinen Rückhalt weiter ausbauen. Und obwohl der Putsch gescheitert ist: die Türkei erwarten schwierige Zeiten.