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18. 7. 2016 - 14:53

Exklusive Mahnwachen für die Demokratie

In der Türkei feiern Erdogan-Anhänger_innen gerade die Abwehr des Putschversuchs und vor allem ihren Präsidenten. Allerdings ohne jene, die sich sonst im Land für mehr Demokratie einsetzen.

Ein Kommentar von Can Gülcü

Can Gülcü

Can Gülcü

Can Gülcü ist Kulturschaffender und Aktivist, ehemaliger Co-Leiter von WIENWOCHE und der Shedhalle Zürich, Lehrbeauftragter an Universität Graz und Vorstandsmitglied von SOS Mitmensch, von Radio Orange 94.0 und der Initiative Vielmehr für Alle.

Als ich mit meiner Familie Anfang der Neunziger Jahre aus der Türkei nach Österreich zog, waren zwei der gewöhnungsbedürftigsten Neuigkeiten in unserem Leben, dass es im kleinen Städtchen Salzburg keine Staus gab und dass im kleinen Land Österreich so wenig passierte, dass die Abendnachrichten nie länger als eine Viertelstunde dauerten.

In Istanbul nämlich waren Staus ein fixer Bestandteil unseres Alltags gewesen. Man konnte keinen einzigen Termin ausmachen, ohne über das Verkehrsaufkommen an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Tageszeit Bescheid zu wissen, weil man sonst Gefahr lief, Stunden zu spät zu kommen. Außerdem waren die Staus eine willkommene Ausrede gewesen, die erste Schulstunde zu schwänzen. In Salzburg hingegen musste ich kleinlaut zugeben, dass ich verschlafen hatte, oder mühsam Lügen erfinden – wie dass der Bus zu spät kam, was so gut wie nie passierte.

Und es war kaum zu ertragen, wie gut es den Menschen hierzulande gehen musste, da die wichtigste Nachrichtensendung in 15 Minuten kaum mehr zu bieten hatte als ein paar Neuigkeiten aus der Welt, die Österreich meistens gar nicht oder nur peripher betrafen, und einige überschaubare brisante innenpolitische Geschichten, ausnahmsweise ein Skandälchen da, ein Murenabgang dort. Das änderte sich zwar mit dem Jugoslawien-Krieg, aber um in Friedrich Orters einschläfernder Stimme einen Widerhall der österreichischen Außenpolitik zu erkennen, fehlte mir damals wohl noch das politische Hintergrundwissen.

Demonstranten mit Türkei-Fahnen

APA / AFP / Halit Onur Sandal

Den ganzen Abend Nachrichten

In der Türkei hingegen dauerten Nachrichtensendungen mehrere Stunden. Seitdem der Militärputsch von 1980 Turgut Özal an die Macht gespült hatte und der die Neoliberalisierung des Landes energisch vorantrieb, waren unzählige private Fernsehsender entstanden. Diese berichteten täglich über veritable politische Krisen im Inland, handfeste Skandale, Mord, Totschlag, Terror oder drohende Staatsbankrotte, gefolgt von Nachrichten aus dem näheren Ausland – dem Balkan und dem Nahen Osten –, wo die Türkei eigene Machtinteressen verfolgte, sowie einigen wenigen Agenturmeldungen aus dem ferneren Ausland. In der landestypischen Mischung aus Boulevard und seriösem Journalismus war das Ganze garniert mit ein paar Neuigkeiten aus dem Leben von Berühmtheiten und den Wehwehchen von Fußballstars. Darauf folgten ebenfalls stundenlange Diskussionssendungen, täglich in neuer Besetzung und mit neuen Variationen der gleichen Argumente, sodass einem nie langweilig wurde.

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Als wir nach ein paar Jahren in Salzburg endlich eine Satellitenschüssel installiert hatten und alle erdenklichen türkischen Sender empfangen konnten, bedeutete das eine Qualitätssteigerung auf mehreren Ebenen. Das eindeutig Wichtigste war, dass ich nicht mehr wie davor jeden Sonntagabend die Hotline von Hürriyet in Deutschland anrufen musste, um zu erfahren, wie Galatasaray am Wochenende gespielt hatte. Und dass es endlich wieder möglich war, „richtige“ Nachrichten zu sehen, über die dann täglich diskutiert werden konnte. Diese Fülle an Information und Diskussion bot reichlich Argumentationshilfe für einen jungen, politisch interessierten Menschen: Es gab eine Zeit, in der ich über ein bestimmtes politisches Thema jeweils vollkommen schlüssig und glaubwürdig, beispielsweise wie ein kemalistischer Nationalist oder ein kurdischer Separatist, argumentieren konnte, je nachdem wen es herauszufordern galt bzw. wem gegenüber sich zu behaupten.

Serien und Pannen(streifen)

Als am Freitagabend ein Freund anrief und aufgeregt berichtete, dass in der Türkei komische Dinge vor sich gingen, dass Soldaten beide Brücken in Istanbul abgesperrt hätten, Panzer durch die Straßen fuhren und F-16 und Hubschrauber über die Städte flogen, dass es sich wohl um einen Putschversuch handelte, musste ich unmittelbar neben der Aufregung und der Angst um Familie und Freund_innen an die Staus und die Nachrichtensendungen denken.

Ich dachte, welcher Idiot von einem General versucht einen Putsch an einem Freitagabend, an dem es die unaufhörlichsten Staus in Istanbul gibt, wenn sich der Feierabendverkehr mit dem freitagabendlichen Ausgehverkehr vermischt? Sollen die Panzer im Stop-and-Go-Modus zu ihrem Putsch fahren oder über Pannenstreifen, die meistens sowieso nicht freigehalten werden?

Und wie soll das funktionieren, wenn meine Mutter weiterhin seelenruhig ihre Freitagabendserie schaut und erstmal nichts mitbekommen hätte, wenn ich mich nicht nach ihrem Wohlergehen erkundige? Zu einem anständigen Putsch gehört nun mal die flächendeckende Übernahme der Kommunikation. Derselbe, der die Panzer durch die Staus lotste, musste sich wohl gedacht haben, es würde ausreichen, den Staatssender zu besetzen. Ob sie planten, wie 1980 täglich und ununterbrochen die „Heldenlieder“ des Volkssängers Hasan Mutlucan zu senden, wenn der Putsch mal geschafft ist, war noch nicht klar. Ich war allerdings ziemlich sicher, dass der besagte Idiot von einem General seine Enkelkinder jedes Mal zu Hilfe holte, wenn er ein Mail verschicken musste.

Nun, es gibt zwei Tage nach dem gescheiterten Putschversuch kaum eine Verschwörungstheorie, die noch nicht geäußert wurde. Erschreckenderweise könnten alle gänzlich oder teilweise zutreffen genauso wie gänzlich oder teilweise falsch sein. Das Ganze wird die hiesige Öffentlichkeit vermutlich noch einige wenige Tage, die türkische hingegen einige Jahrzehnte beschäftigen. Aber in diesem Moment, wo jede erdenkliche Frage und jede Vermutung anhand einer großen Menge diffuser Information aus zweiter, dritter Hand durchgedacht und diskutiert wird, versuche ich mich zwecks Psychohygiene auf einige wenige zu konzentrieren.

Was wäre, wenn?

Seit Sonntag treffen sich Zehntausende zu sogenannten „Mahnwachen für die Demokratie“. Sie feiern die Abwehr des Putschversuchs, die damit erfreulicherweise bewahrte quasi-demokratische Ordnung und – Recep Tayyip Erdogan. Einen Politiker und mit seiner AKP eine Partei, deren Politik die Umwandlung der Türkei in einen repressiven, wertkonservativen, in vielen Facetten faschistoiden Unternehmerstaat forciert und damit die Entdemokratisierung des Landes auf jeder erdenklichen Ebene. Und ich frage mich folgendes:

Was würde passieren, wenn sich heute Abend der Demonstration am Taksim-Platz Menschen anschließen wollten, die statt mit den roten, türkischen Fahnen, den blauen Fahnen der Turkmen_innen, den Fahnen mit den drei Halbmonden der Nationalist_innen oder den grünen, schwarzen Fahnen mit den arabischen Botschaften der radikalen Islamist_innen beispielsweise mit den rot-grün-gelben Fahnen der Kurd_innen, mit den Regenbogenfahnen der Lesben und Schwulen, den violetten Fahnen der Feministinnen oder roten Fahnen der Gewerkschaften und Linken mitdemonstrieren wollten. Und die die Ermahnung zur Demokratie ernstnehmen würden, statt sich den „Recep Tayyip Erdogan“-Rufen anzuschließen?

Oder wenn eine solche Gruppe von Menschen einfach am Kadiköy-Platz eine alternative Demonstration abhalten wollte? Eine Demonstration, die nicht die herrschende Regierung und ihr Demokratieverständnis feiert, sondern die Demokratisierung des Landes fordert: mehr Pressefreiheit, Minderheitenrechte, das Ende des Krieges im Südosten, Umweltschutz, Transparenz, Wiederherstellung der Gewaltenteilung, ein Ende der Aushöhlung aller Institutionen und so weiter? Oder schlicht eine Demonstration gegen die Todesstrafe, während auf der anderen Seite des Bosporus am Taksim-Platz Zehntausende „Wir wollen Hinrichtungen“ skandieren?

Dass AKP-Anhänger_innen oder gar gläubige Muslim_innen per se Gegner_innen der Demokratie seien, ist in Zeiten wie diesen natürlich eine willkommene Verkürzung einer weitaus komplexeren Realität. Dass die massive Polarisierung der türkischen Gesellschaft nur auf dem Mist der AKP gewachsen ist, ebenso.

Aber unabhängig davon: Gäbe es heute oder in naher Zukunft eine Erdogan-kritische Demonstration in der Türkei, ich würde wohl zögern daran teilzunehmen. Weil es kaum auszuschließen wäre, dass manche Anhänger_innen des Staatspräsidenten diese angreifen würden und im revanchistischen Exzess Teilnehmer_innen verfolgen würden und versuchten, wieder einige Köpfe abzuschneiden oder unliebsame Gegner_innen zu lynchen. Oder dass man als Teilnehmer_in einer solchen Demonstration die nächsten Monate oder Jahre im Kerker verbringen würde. Dieses Gefühl haben im Moment viele in der Türkei. Und das ist dermaßen beängstigend, dass ich gerade eher froh bin, nicht im Stau in Istanbul zu stecken und über die ZiB nur einen Bruchteil dessen mitzubekommen, was in der Türkei gerade vor sich geht.