Erstellt am: 7. 6. 2016 - 16:28 Uhr
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Es wird anstrengend werden, das weiß man schon vorher, und dass man drei Tage lang zwischen zwölf Bühnen über heißen Beton hin und her laufen wird, den Timetable fest umklammert, um wenigstens einen Bruchteil der besten Bands am Lineup zu sehen, hat man sich auch ausmalen können. Nicht zu unterschätzen ist als Primavera-Sound-Festival-Neuling wie -VeteranIn aber möglicherweise, dass man all den Überfluss an Gutheit auch emotional irgendwie verarbeiten muss. Nie spielt auf einer der Bühnen irgendwer.
Cecilia Diaz Betz / Primavera Sound Festival
Eric Pàmies / Primavera Sound Festival
Wenn man noch "Creep" im Ohr hat (mehr dazu hier), gesungen aus zehn- oder fünfzigtausend Fanmündern und von seinen Urhebern selbst, dann kann man, egal wieviel Bier man getrunken hat, nicht einfach in Animal-Collective-Modus schalten, wobei man es natürlich eigentlich doch kann und auch tut. Sobald man darüber hinweg gekommen ist natürlich, dass man während Radiohead Dinosaur Jr., Shellac, Tortoise und den PC Music-Prankster Sophie verpasst hat. Es ist nämlich so: All die aufdringliche Euphorie und immer größer werdenden Reisegruppen, die Jahr für Jahr vom Primavera Sound Festival schwärmen und bereits Monate vor der nächsten Edition ihre Pilgerreise planen, haben recht. Besser geht es in Sachen Festival kaum.
Es geht intimer, hippie-esker und angenehmer, wenn man so will, weil riesige Veranstaltungen nun einmal eine Menge Komplikationspotential in sich tragen, und sei es nur, wenn man in einem unbedachten Moment seine Freunde verliert und dann zweistellige Beträge in Roaming-Anrufe und Whatsapps investieren muss, um sich auf dem Gelände wieder zu finden. Aber wenn es darum geht, das aktuell Beste und Wichtigste aus der im allerweitesten Sinne Indie-Welt, zusätzlich zu ein paar alten und uralten Pop- und Rock-Klassikern, die man zumindest einmal auf einer Bühne erleben sollte (Brian Wilson, hier entlang), live zu sehen, bei warmem Wetter, neben freundlichen Menschen, mit okayem Essen und mittelteurem Bier, dann ist das Primavera Sound Festival die beste Option.
Eric Pàmies / Primavera Sound Festival
Xarlene / Primavera Sound Festival
Denn nicht zuletzt trifft beim Primavera Sound der öde Satz nicht zu, dass man als echter Fan eine Band auf einem Festival doch gar nicht in ihrer Gesamtheit erleben kann, weil Sound, weil Mühsamkeit, weil begrenzte Zeit, und die blöden anderen interessieren sich doch gar nicht wirklich so sehr für die Musik wie man selbst. Es hätte bei Radiohead und manch anderem Headliner deutlich lauter sein können, das stimmt schon, aber es wird schwierig sein, eine Person zu finden, die an einem halbwegs mittigen Platz oder gar weiter vorne eine der großen Kaliber-Shows gesehen hat und noch immer findet, sie habe nicht genug gefühlt.
Völlig einstimmig wurde dann, zumindest bei 99 Prozent der Menschen in unserer unmittelbaren empirischen Forschungsstudie, in der Samstagnacht PJ Harvey zur Königin des diesjährigen Primavera Sound Festival gekrönt. Es hatte an den vorigen Abenden schon so einige Großartigkeit gegeben: James Murphy, Nancy Whang und ihre Bandkollegen der Postdisco-Unternehmung LCD Soundsystem mit ihrer wenig überraschend souveränen Rückkehr auf europäische Bühnen.
Eric Pàmies / Primavera Sound Festival
"We can't have parties like in Spain where they go all night" singt James Murphy in "North American Scum" - wahrlich nicht der allerbesten LCD-Nummer, aber darum geht es gerade nicht - und hier in Barcelona wird dieser Satz drei Nächte lang wieder einmal Wirklichkeit, auch wenn der Song in der Setlist gar nicht vorkommt. Wie es alle hier schaffen, bis sechs Uhr früh zu DJ Koze zu tanzen und am nächsten Tag schon ab 16.00 wieder hübsch aussehend am Gelände neue Musik zu entdecken, bleibt ein katalanisches Geheimnis.
LCD Soundsystem jedenfalls halten sich an das Motto "You wanted a hit" und spielen sie alle. Das extrem aufwändige und elaborierte Live-Setup trägt natürlich zur makellosen und stadiontauglich-rockigen Umsetzung der Songs bei, nimmt aber, das muss man vielleicht vorsichtig sagen, manchmal etwas von der funky Rohheit der Basslines. Es macht nichts.
And if the sun comes up, if the sun comes up, if the sun comes up
And I still don't wanna stagger home
Then it's the memory of our betters
That are keeping us on our feet
Eric Pàmies / Primavera Sound Festival
Am letzten Festivaltag ist dann noch die britische Göttin PJ Harvey über das Primavera Sound Festival gekommen. Mit ihrer neunköpfigen Band, die aus Langzeit-Kollaborateuren wie John Parish oder Mick Harvey besteht ("Hola Barcelona. Esto es mi grupo", PJ Harvey) bringt sie ihr aktuelles Album "The Hope Six Demolition Project" beinahe in seiner Gesamtheit zur Aufführung, dazu frühere Großtaten wie "To bring you my love" oder ihren größten Single-Hit "Down by the water". Auf magische Weise verbindet PJ Harvey politische Dringlichkeit mit Verschmitztheit. Sie ist eindringlich und würdevoll, aber gleichzeitig auch über allzu große Ernsthaftigkeit erhaben, sie sieht umwerfend aus und statt der Gitarre spielt sie in dieser Nacht ausschließlich Saxophon.
Zweifellos hat sie auch einen speziellen Video-Mann mitgebracht - Ist es Seamus Murphy? - denn die Bilder auf den zwei großen Leinwänden neben der Bühne, schwarzweiß, vernebelt, im perfekten Spiel mit Schärfentiefe, die Kamera immer genau dort, wo gerade jemand etwas Interessantes macht oder PJ Harvey gleich von links graziös ins Bild schweben wird, gleichen nichts weniger als einer Live-Doku-Aufnahme, der man in Echtzeit beim Entstehen zusehen kann.
Eric Pàmies / Primavera Sound Festival
Nach dem Konzert der Königin hat man den Gefühlsvorrat für den heutigen Abend verbraucht, und in der stillen, glosenden Glückseligkeit kann man sich sogar Moderat anschauen - vielleicht ist dennoch hier nun einmal der Moment gekommen, das Folgende auszusprechen: Diese Kollaboration aus Modeselektor und Apparat ist ein stark überschätztes Musikprojekt, eine großformatig aus billigen Ideen aufgeblasene Romantik mit nur schwer erträglichem Gesang, die auch live nicht zu überzeugen vermag.
Es ist aber alles schön und gut und rein in dieser Nacht, daher wird man sie weiterhin mit den anderen Zehntausend genießen, prosten mit den TanznachbarInnen, den unendlich geduldigen, freundlichen Kellnern an der Bar in der Mitte geschlagene zwanzig Minuten dabei zu sehen, wie sie lächelnd die kaputte Kreditkarte der betrunkenen Bros durch ihre Maschinen ziehen, immer und immer wieder. So verbrachten wir die Zeit mit dem Gefühl von leichtem Schwindel, setzten uns auf eine Bank und fühlten die Harmonie.
The PJ Harvey show tonight was the best performed - mixed - filmed show I've seen in the last 10 years
— Geoff Barrow (@jetfury) 4. Juni 2016
Hier noch eine Expertenmeinung zu der Causa PJ Harvey
Eric Pàmies / Primavera Sound Festival
Xarlene / Primavera Sound Festival
Während es am Festivalsamstag irgendwie traurig war, einem geschwächten Brian Wilson am Klavier mit neuer Band beim Nachspielen der alten Beach-Boys-Hits zuzusehen, sprudelt, wirbelt und schäumt es bei der Show von Animal Collective in der Nacht davor in allen Farben. Was den Beach Boys California ist, Heimat, Sehnsuchtsort, Paradies, ist dem Animal Collective Floridada, the everywhere place, eine eindeutige Referenz. Darin gibt es eine Stelle, die auf keiner Bühne der Welt besser aufgeht als hier:
A continent molded from glass
Or maybe a town I can taste.
Dresses that glow on
Girls from Barcelona
I wanna discover the key
And open the everywhere place
A mix of sky from Montana
Dipped in FloriDada
Viel Schönes ist noch passiert: Car Seat Headrest covern kurz Radiohead, Holly Herndon vereint Sounddesign und Avantgarde-Techno, Savages sind eine entfesselte Supermacht, Lokalmatador John Talabot beschließt das Festival mit Disco-Glückseligkeit auf der Beach Bühne bis die Sonne aufgeht. Jeder andere Mensch beim Primavera Sound hat ein anderes Festival erlebt. Alle kommen wieder.
Cecilia Diaz Betz / Primavera Sound Festival
Eric Pàmies / Primavera Sound Festival