Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "You're so fucking special"

Katharina Seidler

Raschelnde Buchseiten und ratternde Beats, von Glitzerkugeln und Laserlichtern: Geschichten aus der Discommunity.

4. 6. 2016 - 16:03

You're so fucking special

The house that "Creep" built: Radiohead beim ausverkauften Primavera Sound Festival 2016.

FM4 Festivalradio

Der Musiksommer auf fm4.ORF.at

"Ich habe 1.500 Kilometer autogestoppt, um vielleicht Radiohead sehen zu können. Ich suche dringend noch ein Ticket." Mit diesem Schild steht eine Engländerin am Freitagabend vor dem Eingang zum riesigen Gelände Parc del Fórum, auf dem auch dieses Jahr das Primavera Sound Festival über seine zwölf Bühnen geht. Es ist gar nicht mehr so lange hin bis zur Show, aber die junge Frau blickt weiterhin hoffnungsvoll lächelnd auf die ankommenden Menschenmassen und nimmt ermunterndes Schulterklopfen entgegen. Das katalanische Primavera Sound Festival ist seit einem halben Jahr ausverkauft, und trotzdem ist sie gekommen, um möglicherweise Radiohead zu sehen. So eine Band ist das, und so ein Festival.

Radiohead beim Primavera Sound Festival 2016

Eric Pàmies / Primavera Sound Festival

Entsprechend ihres Headliner-Status und der in der Luft liegenden Erwartungen, die schon eine Stunde vor Konzertbeginn eine kleine Völkerwanderung in Richtung Hauptbühne auslösen, dauert das Radiohead-Set des heutigen Abends zwei volle Stunden. Vor einer wie üblich aufwändigen Lichtkulisse, heute bestehend aus mehreren Bildschirmen, die gemeinsam Ausschnitte einer Filmrolle darstellen, fällt alles sofort in its right place, wenn die Band zu den ersten Tönen ihrer aktuellen Single "Burn the witch" ansetzt und sogar Zuseher in den hinteren Reihen, also gefühlte 300 Meter von der Bühne entfernt, den Text mitsingen können. Die Online-Setlist wird von Fans in Echtzeit upgedated.

Radiohead beim Primavera Sound Festival 2016

Eric Pàmies / Primavera Sound Festival

Yesterday I woke up sucking a lemon

Nun nimmt die Show dennoch und mit voller Absicht nur vorsichtig Fahrt auf, denn so gut wie die Klassiker sitzen die ersten fünf Nummern des erst kürzlich erschienenen Longplayers "A Moon Shaped Pool", gespielt in ebendieser Reihenfolge - alphabetisch! - beim Publikum dann eben doch noch nicht und in ihrer Vielschichtigkeit und immer zunehmenden Abstraktion sind sie für die Live-Situation natürlich auch nicht unbedingt leichte Kost. Man darf neben all der Heldenverehrung nicht vergessen, dass es ebenso jede Menge Leute gibt, die Radiohead scheiße finden, puristische Verfechter der früheren Alben bis - wenn überhaupt - "Amnesiac" beispielsweise, oder einfach Menschen, denen die ernsthafte Verkopftheit, Thom Yorkes nöliger Gesang, die dahinwabernden Gitarren, Klaviere, Drums oder Beats auf die Nerven gehen, und man darf es ihnen nicht verübeln. Denn all dies ist in Bezug auf Radiohead wahr, und das wissen und verstehen beide Seiten der Radiohead-Beurteiler: Egal sind sie niemandem. This band could be your life. Just 'cause you don’t feel it doesn’t mean it’s not there.

Radiohead beim Primavera Sound Festival 2016

Eric Pàmies / Primavera Sound Festival

Wenn nämlich 20.000 Menschen "Karma Police" singen und dabei gemeinsam traurig werden vor lauter Glück, dann spürt jeder am Platz, warum man all dem hier so verfallen ist, tagelang kaum schläft, kilometerweit auf Beton herumsprintet, sehr viel Geld ausgibt, auf Dixieklos geht, gerempelt wird oder selbst auf Füße trampelt. Der Bass von Colin Greenwood kommt live immer viel stärker zum Tragen, und die Anspannung beim Warten auf die nächste Melodie aus Thom Yorkes Mund ist fast greifbar. Radiohead ist keine Band für Zyniker, es ist eine Band für den Moment, in dem Menschenmassen kollektiv in Falsettstimme summen und Fantasieworte erfinden. Ich kann alle Radiohead-Lieder auswendig said no one ever. Eine Welt, in der seltsame, eigensinnige, überirdische Songs wie "Idiotheque" den Popmusik-Kanon ausmachen, kann vielleicht doch nicht eine rein schlechte sein, und wenn, dann gibt es immerhin noch Bands wie diese, die sich dessen bewusst sind. Das Publikum beim Primavera Sound Festival ist übrigens auch eines, das auffallend wenig mit dem Handy filmt.

Radiohead beim Primavera Sound Festival 2016

Eric Pàmies / Primavera Sound Festival

Zum Abschluss des Zugabenblocks wird das Tempo bei "Nude" noch einmal heruntergeschraubt, um dann mit "2+2=5" und "There there" vom unterschätzen Spitzen-Album "Hail to the thief" inklusive toller Mitklatsch-Motive noch einen weiteren Euphorieschub zu generieren. Und dann passiert es, die Band verschwindet von der Bühne, Thom Yorke kommt zurück, nuschelt unverständliche Dinge ins Mikrophon, die später online verkürzt als "Haben wir noch Zeit?" aufgelöst werden, und Radiohead spielen erstmals seit sieben Jahren - in Wirklichkeit eigentlich nur erstmals seit einem Frankreich-Konzert während der aktuellen Tour vor zwei Wochen, aber nur einem einzelnen, immerhin - "Creep". Es scheint, als hätten sie sich damit irgendwie selbst überrascht. Was dann auf dem Platz vor der großen Primavera-Bühne passiert, darüber kann man eigentlich nur noch schweigen.

Radiohead beim Primavera Sound Festival 2016

Eric Pàmies / Primavera Sound Festival