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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

28. 4. 2016 - 21:02

"Before he went mad"

Der Londoner Ex-Bürgermeister bezeichnet Hitler als "Unterstützer des Zionismus" und fliegt dafür aus der Labour Party. Ein Anfang, vielleicht.

Mein politischer Instinkt würde ja nahelegen, dass ich mich hier heute mit der großen Begabung der Labour Party beschäftige, sich selbst in den Fuß zu schießen.
Ginge es hier nicht um Ernsteres...

Wir hatten diese Woche eigentlich damit begonnen, dass der Brexit-Nationalismus seine rassistische Seele preisgab.

Boris Johnson, der Noch-Bürgermeister von London und selbsterwählte Häuptling der Brexit-Brigade, hatte in seiner Zeitungskolumne auf die "teils kenianische" Herkunft Barack Obamas hingewiesen, um so dessen vorgebliche, tiefsitzende Briten-Feindlichkeit zu begründen.

Boris Johnson

APA/AFP/JUSTIN TALLIS

Boris Johnson

Und das vor dem Hintergrund des mit rassistischen Stereotypen operierenden Londoner Wahlkampfs des konservativen Zac Goldsmith gegen Labours Sadiq Khan (wie vorige Woche hier beschrieben).

Doch innerhalb der letzten 48 Stunden hat die Labour Party das Kunststück geschafft, sich eine Woche vor der Londoner Wahl in eine völlig selbstverschuldete Krise über eine ganz spezielle Form von Rassismus in den eigenen Reihen zu verstricken, die all das oben Erwähnte überstrahlt.

Und das ging so:

Gestern war bekannt geworden, dass die letztes Jahr ins Unterhaus eingezogene Abgeordnete Naz Shah 2014 auf ihrem Facebook-Profil eine Grafik gepostet hatte, die eine Umsiedlung Israels in die USA vorschlug. Mit dem Kommentar: "Problem gelöst, und erspart Überweisungskosten für die drei Milliarden, die ihr jährlich transferiert."

Shah hatte außerdem ihre FB-Freund_innen aufgerufen, sich an einer Zeitungs-Umfrage zu beteiligen, die Leser_innen darüber abstimmen ließ, ob Israel ihrer Meinung nach Kriegsverbrechen begehe. "Jews are rallying to the poll" ("die Juden sammeln sich für diese Umfrage..."), schrieb Shah dazu.

In einem anderen Post wiederum stellte sie zu Israel vergleichend fest, dass schließlich auch Hitlers Taten "legal" gewesen wären.

Nachdem all dies im Blog des rechtsgerichteten Polit-Rebellen Guido Fawkes aufgedeckt wurde, hatte Shah sich nun gestern in einem Statement umfassend für ihre Posts entschuldigt, wurde aber dennoch, zumindest für die Dauer einer innerparteilichen Untersuchung zu ihrem Verhalten, von der Labour-Fraktion ausgeschlossen.

Parteichef Jeremy Corbyn veröffentlichte dazu ein Statement: "Sie hegt nicht solche Ansichten und akzeptiert, dass es vollkommen falsch war, diese Posts zu machen. Die Labour Party steht unerbittlich gegen Antisemitismus und alle Formen von Rassismus."

Heute morgen dann ließ sich Labours Londoner Altbürgermeister Ken Livingstone vom Radiosender BBC London zum Fall Shah interviewen.

Ken Livingstone

APA/AFP/JUSTIN TALLIS

Ken Livingstone

Er nahm dabei Shah in Schutz. Er habe in der Labour Party noch nie Antisemitismus erlebt, wiewohl er selbst ja schon oft genug von Zionist_innen zu Unrecht des Antisemitismus bezichtigt worden sei.

Dann nützte er die Gelegenheit zu einem spontanen Exkurs in sein historisches Halbwissen: Hitler selbst habe den Zionismus "unterstützt", ehe er 1932 "verrückt geworden" sei (wörtlich "before he went mad") und dann sechs Millionen Juden umgebracht habe.

Als Reaktion auf die groteske Äußerung forderte eine Reihe von Labour-Abgeordneten, darunter auch Labours Bürgermeisterkandidat Sadiq Khan, via Twitter und Blogs die sofortige Suspendierung Livingstones, der in der Labour Party pikanterweise gerade leitend an einer neuen Außenpolitikstrategie arbeitet.

Khans Tweet: "Ken Livingstone's comments are appalling and inexcusable. The most be no place for this in our Party."

Twitter

Livingstone reagierte darauf, indem er von Interviewgelegenheit zu Interviewgelegenheit lief, und sich in Funk und Fernsehen zu immer abstruseren Rechtfertigungen seiner Aussagen verstieg.

Im Gang zum Westminster-Studio der BBC stellte ihn dabei der Labour-Abgeordnete John Mann, Vorsitzender der überparteilichen Parlamentariergruppe gegen Antisemitismus, zur Rede.

Er erinnerte ihn unter anderem daran, dass Hitler seine antisemitische Tirade "Mein Kampf" schon 1925 veröffentlicht hatte, und nannte Livingstone einen "Nazi apologist" (Nazi-Verteidiger).

Es sollte bis halb zwei Uhr Nachmittags dauern, ehe die Parteiführung sich endlich dazu hinreißen ließ, Livingstone wegen "Schädigung des Rufs der Partei" zu suspendieren.

Man kann das erklären.

Ken Livingstone ist ein alter Gefährte Jeremy Corbyns in der Parteilinken. Er bildete in den 1980ern als Chef eines progressiven Greater London Council eine Art aufmüpfige kleine Gegenregierung zu der Margaret Thatchers, ließ eine Statue für Nelson Mandela aufstellen (als Thatcher den noch einen Terroristen nannte), senkte die Preise im öffentlichen Verkehr, vergab städtische Fördermittel an LGBT-Projekte und vieles mehr.

Es war ein unblutiger kleiner Bürgerkrieg zwischen Westminster und der City Hall auf der anderen Seite des Flusses, der damit endete, dass Thatcher 1985 einfach die Londoner Stadtverwaltung abschaffen ließ.

Aus der City Hall wurde ein Aquarium.

Livingstone lebte als Londoner Volksheld, nicht nur der erklärten Linken, weiter. Nicht umsonst hatte er 1995 auf Blurs "The Great Escape" einen Gastauftritt im Song "Ernold Same".

In den späten Neunzigern schaffte Livingstone sein Comeback als unabhängiger Kandidat für den neu geschaffenen Londoner Bürgermeisterposten - und fügte damit seinem politischen Widersacher Tony Blair die erste Niederlage seiner ersten Amtszeit als Premier zu.

Livingstone war wegen seiner eigenmächtigen Kandidatur von der Labour Party ausgeschlossen worden. Nach seinem Sieg musste ein selten reuiger Blair ihn wieder in die Partei zurückholen.

Als Boris Johnson Livingstone schließlich zweimal bei Bürgermeisterwahlen besiegte, waren dessen Verhalten und Aussagen schon auffällig aus dem Ruder geraten.

Da gab es Geschichten von Vollräuschen und dem berüchtigten Zusammenstoß mit einem (übrigens jüdischen) Evening Standard-Reporter, dem Livingstone "das Benehmen eines KZ-Wächters" unterstellte.

Mit der unverhofften Wahl Jeremy Corbyns zum Parteivorsitzenden kehrte Livingstone letztes Jahr als Berater in die Parteizentrale zurück, unter anderem, um parteiintern gegen die von Labour bisher unterstützte Erneuerung des britischen Atomwaffen-Arsenals Stimmung zu machen.

Ihn jetzt wieder rauszuwerfen - also zu tun, was vor ihm schon Tony Blair tat - kann Corbyn nicht leicht gefallen sein.

Aber all das sollte in dieser Frage natürlich überhaupt keine Rolle spielen.

Der halbe Tag, den es bis zu Livingstones Rauswurf brauchte, dauerte jedenfalls peinlich lang.

Selbst ein treuer Corbynist wie Owen Jones tweetete schon, dass Livingstone endlich suspendiert gehörte, "bevor ich mich mit meinen eigenen Fäusten erschlage."

Zur Klärung: Im Gegensatz zu den heutigen Aussagen David Camerons glaube ich ja selbst nicht, dass es einzig die Labour Party ist, die im politischen Leben Großbritanniens ein Antisemitismus-Problem hat.

Zu genau erinnere ich mich an die Kampagne vor den letzten Wahlen, als die Tories sich im Einklang mit der Boulevardpresse über Fotos lustig machten, in denen der Jude Ed Milliband offenbar so linkisch ein Speck-Sandwich aß. "Weird" sei der, so sagten und schrieben sie immer wieder, kein Mensch wie du und ich. Und jede_r wusste, was damit (auch) gemeint war.

Der Antisemitismus in der britischen Linken findet allerdings eine von britisch konservativen Kreisen gemiedene, üppige Spielwiese im Anti-Zionismus und der Israel-Kritik.

Hierzulande gibt es kein Gegenstück zum Einfluss der Anti-Deutschen in Deutschland, die den Mehrheitskonsens im vergangenen Jahrzehnt in Richtung einer (aus hiesiger Sicht wiederum oft unverständlich regierungsgetreu) Israel-freundlichen Sicht des Nahost-Konflikts bewegt hat.

Folglich klingt der britische linke Diskurs immer noch in etwa so wie der in der anti-imperialistischen Soli-Bewegung der 1980er, als jede_r Zweite mit PLO-Schal herumlief (zum Beispiel auch mein gerade erst aus der antisemitischen Sowjetunion ausgewanderter jüdischer Klassenkamerad, so war das damals).

Die Kritik an Israels Verhältnis zu den Palästinenser_innen in den besetzten Gebieten und dem arabischen Teil seiner eigenen Bevölkerung versteht sich hier oft als direkte Verlängerung der antirassistischen Anti-Apartheid-Bewegung, daher auch die populäre Tendenz zu Israel-Boykotten an den Unis - bei auffälliger gleichzeitiger Abwesenheit von Aufrufen zu Boykotten anderer garstiger Regime wie, sagen wir, Saudi-Arabien.

Dazu kommt noch das Gefühl, dass man als jene westeuropäische Nation, die den Nazis die Stirn bot, auf der richtigen Seite der Geschichte steht.

Im Gegensatz zum pseudo-entnazifizierten Österreich hat sich das zumindest öffentliche Vermeiden antisemitischer Äußerungen hier nie ganz im Knigge des guten Tons etabliert (Ich möchte etwa gar nicht erst damit beginnen, nachzusehen, in wie vielen britischen Pop-Biographien, die ich besitze, irgendwo der Bezug auf die jüdische Identität eines Managers auftaucht, sobald es um Geldangelegenheiten geht).

Was im Stimmungsbild allerdings auch nicht unerwähnt bleiben darf, ist, dass Naz Shah ihren Sitz in Bradford West bei den Wahlen letztes Jahr ausgerechnet George Galloway, dem seinerseits für seine antisemitischen Ausritte bekannten Ex-Labour-Politiker und Gründer der "Respect" Partei entriss.

Die Bevölkerung dieses Wahlkreises ist überwiegend muslimisch, und Galloway ging in seiner Strategie, sich durch Parteinahme im Nahost-Konflikt Wahlstimmen zu holen, einmal sogar so weit, Bradford als "Israeli-freie Zone" zu bezeichnen.

Dass Naz Shah, die ihn schließlich besiegte, selbst ähnlich bedenkliche Dinge gepostet hat, sollte nun eigentlich eine tiefgehende Diskussion über Antisemitismus und Rassismus als gefährliche politische Waffe im multikulturellen Großbritannien auslösen. Genau wie Zac Goldsmiths islamophober Wahlkampf in London.

Stattdessen tönte heute Boris Johnson selbstgerecht von einem "Virus des Antisemitismus" in der Labour Party. So als wäre er selbst gegen jeden Rassismus immun. Ausgerechnet er, der unter anderem 2002 in einer Kolumne schrieb, die Königin liebe den Commonwealth, weil sie dort immer von Fahnen wedelnden "picanninnies" begrüßt werden würde (rassistisches Slangwort für dunkelhäutige Kinder).

Leser_innen in Österreich kann indessen Ken Livingstones Versuch, Hitler zum Zionisten zu erklären, angesichts atemberaubend zynischer Versuche der Rechten in eurem Land, antifaschistische Rhetorik für sich zu vereinnahmen, wohl kaum noch schockieren.

Anerkennend anzumerken ist aber, dass hierzulande Aussagen wie die des Altbürgermeisters immerhin noch dazu reichen, seine politische Karriere zu beenden.

Und zumindest innerhalb der Labour Party haben die Fälle Shah und Livingstone (sowie jener der Ex-Kandidatin Vicky Kirby, die sich auf Twitter über die "großen Nasen" von Juden mokierte) im Verlauf des heutigen Tages zu ein paar schwer überfälligen, leidenschaftlichen Grundsatzerklärungen gegen Antisemitismus geführt.

Mehr als ein - möglicher - Anfang ist das allerdings noch nicht.