Erstellt am: 2. 5. 2016 - 16:49 Uhr
"Verlagerung zu den Extremen"
Die höchste Arbeitslosenquote seit Jahrzehnten, stagnierende Löhne, auseinanderdriftende Einkommens- und Vermögensverhältnisse: ArbeitnehmerInnen stehen unter hohem Druck. Knapp ein Drittel der unselbstständig Beschäftigten in Österreich arbeitet unter "atypischen" Verhältnissen: in Teilzeitarbeit, geringfügiger Beschäftigung, Freien Dienstverträgen, befristeten Anstellungen und im Bereich der
Arbeitskräfteüberlassung, also Leiharbeit. Im Gespräch erzählt der in Wien tätige Arbeitsrechtsanwalt Alois Obereder aus der Praxis.
Obereder
Johanna Jaufer: In der Rückschau auf die bisher von Ihnen bearbeiteten arbeitsrechtlichen Belange: Wer kommt denn in den letzten Jahren eher mehr, wer kommt weniger und wie gliedert sich das "klassische" prekäre Problemfeld?
Alois Obereder: Man bemerkt ein Auseinanderfallen der Klientinnengruppen: Auf der einen Seite kommen Hochprivilegierte - dann wird gestritten um Betriebspensionen, geringfügige Einbußen etc. Die andere Gruppe sind Leute in Dienstverhältnissen, wo wahnsinnig wenig bezahlt wird, eine unglaublich hohe Fluktuation gegeben ist, die Dienstverhältnisse ständig aufgelöst werden, und wo insbesondere darum gestritten wird, ob Mehrstunden, Überstunden bezahlt werden. Im Regelfall werden in diesen prekären Bereichen - Arbeitskräfteüberlassung, Reinigungsgewerbe - Teilzeitbeschäftigungen vereinbart. Es geht dann letztlich nur darum, dass bei Gericht erstritten werden muss, dass man für die tatsächlich geleistete Arbeitszeit auch sein Geld bekommt. Und das ist das relativ Neue an der Situation: Denn früher hatte man Prozesse quer durch die Bank: Die jetzt geschilderten beiden Extreme, und dazwischen viele andere Verfahren, wo es um Fragen wie "wieviel Urlaub ist noch offen am Ende des Dienstverhältnisses" ging, ob eine Entlassung gerechtfertigt war oder nicht etc.
Ein Arbeitsverhältnis definiert sich im Regelfall so:
"Ich weiß, wann ich arbeite, wo ich arbeite, wie lange ich arbeite und ich weiß wie viel ich dafür bekomme. All diese Dinge sind niedergelegt in einem Dienstzettel als Minimum, in einem Arbeitsvertrag im Regelfall. Das bestimmt gewissermaßen das Arbeitsverhältnis. Wenn ich Tätigkeiten verrichte, wo ich weiß wo ich es wie lang zu tun habe auf Anweisung eines Dritten und das wird im Werkvertrag genannt, dann bietet es sich nach meinem Dafürhalten an, dass man sofort zur Arbeiterkammer oder zur Gewerkschaft läuft."
Also entweder der Manager der wegen "großer oder noch viel größerer Bonus" streitet oder ganz ganz prekär.
Ganz genau: Eine Verlagerung der Rechtsstreitigkeit hin zu den Extremen. Auf der einen Seite die Ärmsten der Armen - wobei das auch nicht ganz richtig ist, denn die Ärmsten der Armen finden am Ende des Tages wohl nicht einmal mehr den Weg zu ihren Interessensvertretungen und zu Gericht - und auf der anderen Seite Leute, denen es eigentlich sehr gut geht, und deren Rechte aber tatsächlich auch noch gewissermaßen mit Brief und Siegel dokumentiert sind und die dann sagen, "ich verzichte auf keinen Cent".
Sind die Ärmsten der Armen nach wie vor jene die via Arbeitskräfteüberlassung, in Gastronomie, Bau etc. tätig sind?
Der Bereich der schlecht bezahlten Arbeitskräfte bewegt sich natürlich noch immer in diesem Bereich. Wobei der Ordnung halber auch gesagt werden muss: etwa im Baubereich hier in Wien verschiebt sich die Geschichte immer stärker in die Illegalität hinüber. Wir haben immer mehr Unternehmungen, die eigentlich keine sind, die Menschen arbeiten lassen, am Ende des Tages nicht entlohnen und die Leute dann gewissermaßen über die Hintertüre "bezahlen", indem sie sie das Sozialsystem benutzen lassen - über das Ausfallsgeld, das die IEF Service GmbH im Konkursfall zu bezahlen hat - wo es allerdings auch seitens der Behörden eine ganz starke Abwehrbewegung gibt. Weil man sagt, "wir lassen uns nicht endlos lang ausnutzen".
Die anderen Bereiche, die traditionell schlecht bezahlt und mit schlechten Arbeitsbedigungen und hoher Fluktuation ausgestattet sind, sind die Arbeitskräfteüberlassung, die Gastronomie, das Reinigungsgewerbe, Botendienste, Taxiunternehmen etc. Dort wird wenig verdient, man verharrt relativ kurze Zeit bei einem Arbeitgeber, um dann in der Folge woanders sein Glück zu versuchen, wenn man nicht bezahlt wird oder wenn man die Arbeitsbedingungen nicht mehr aushält und erträgt.
Kommen auch Leute aus dem Pflege- und Sozialbereich, oder gehören die auch eher zu jenen, die es gar nicht erst zur Rechtsvertretung schaffen?
Pflege- und Sozialbereich sind selten; wenn, aber spektakulär. Man hat dann oft Arbeitnehmerinnen, die jahrelang unter jeder Normentlohnung gearbeitet haben und wo im Regelfall mit dem Tod desjenigen den sie betreut haben, überhaupt erst der Mut entsteht, dass sie sich zur Arbeiterkammer begeben, dann Rechtsschutz bekommen und in der Folge Prozesse führen.
"Dann habe ich die perfekte Machttechnik"
Prekariat und Crowdwork: Woran machen sich aktuelle Veränderungen in der Arbeitswelt konkret fest? Arbeitsrechtswissenschafter Martin Risak im Gespräch.
Wenn wir uns die neuen digitalen Arbeitsformen ansehen - Jobvermittlungsplattformen, die viel Wert darauf legen, Dinge wie "Vermittlung" gar nicht erst im Namen zu tragen, die die beauftragten Leute nicht "Auftragnehmer" nennen, sondern eigene Neologismen erfinden. "Book A Tiger" zum Beispiel, hier werden Reinigungskräfte ("Professionals") vermittelt: Wer zu Hause geputzt haben will, bucht diese Dienstleistung online. Es wird damit geworben, dass nur 13 Euro pro Stunde ausgegeben werden müssen und keine Extrakosten entstehen. "Book A Tiger" sagt zu den Menschen, die diese Reinigungsdienste durchführen, "Selbstständige", bezahlt aber einen Stundenlohn. Ist das nicht arbeitsrechtlich ein sehr brüchiges Gebilde?
Das Gebilde als solches wirkt aus der Sicht eines Arbeitsrechtsanwaltes außerordentlich fragwürdig. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ich - wenn ich im Auftrag eines Vermittlers woanders reinige - im Regelfall zumindest in einer arbeitnehmerähnlichen Position bin. Je nachdem, wie sich meine persönliche Abhängigkeit von diesem Auftraggeber gestaltet, unter Umständen echter Arbeitnehmer.
Diese Plattformen sind derzeit noch so neu und die Personen, die über diese Plattformen beschäftigt werden, sind von dieser Idee noch so fasziniert, dass sie bis jetzt den Weg zu den Institutionen - zu Arbeiterkammer, Gewerkschaften und Gerichten - nicht gefunden haben. Ich glaube, das werden Phänomene sein, die wahrscheinlich erst in einiger Zeit von der Gebietskrankenkasse als Problem erkannt werden. Dann wird es wahrscheinlich die ersten groß angelegten Kassen- und Steuerprüfungen gemeinschaftlicher Art geben und der Versuch unternommen werden, zu klären wie diese Vertragsverhältnisse tatsächlich beschaffen sind.
Ich glaube, dass hier auch eine relativ große Diversifikation von Tätigkeiten gegeben ist: Es gibt ja Jobs in diesem Bereich, die außerordentlich hip sind - denken Sie nur an die diversen Fahrradboten, die durch die Stadt fetzen. Ich habe den Eindruck, dass die Menschen, die diese Tätigkeiten ausüben, im Moment irrsinnig glücklich darüber sind, dass gewissermaßen der Umsatz gleich dem Einkommen ist und hier vorerst nicht danach gefragt wird, was eigentlich die Rechtsgrundlage für diese Tätigkeit ist - welche Sozialbeiträge, Steuer etc. zu zahlen wären.
Das böse Erwachen in diesen Geschichten wird größerflächig spätestens in dem Augenblick passieren, wo diese Generation tatsächlich einmal in die Situation kommen wird zu sagen, "ich hätte gerne eine Pension". Dann wird auffallen, verdammt, es fehlen sehr sehr viele Jahre für eine Pensionsleistung in adäquater Höhe. Und aktuell könnte es natürlich passieren in Zusammenhang mit einem Arbeitsunfall, einer Erkrankung - weil dann wahrscheinlich in vielen Fällen auffallen würde, dass der Versicherungsschutz gefehlt hat bzw. man sich über sonstige Versicherungsschutzmöglichkeiten um die Prekarität der Geschichte herumschwindelt (ÖH, Familie etc.).
Was entgeht mir in einem Arbeitsverhältnis wo nicht entsprechend entlohnt und versichert wird, langfristig?
Unterscheiden muss man in verschiedene Fallgruppen: Arbeitsrechtlich falle ich um alles um, was die Kollektivverträge zusätzlich zum unmittelbaren Arbeitslohn bieten: keine Sonderzahlungen, keinen bezahlten Urlaub, keine Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Fehlen der Möglichkeit die Krankenkasse in Anspruch zu nehmen vor einer Entbindung und danach - wenn ich Pech habe, bekomme ich in der Folge auch kein Kindergeld, wenn ich karenziert bin. Langfristig werde ich zum Zeitpunkt des Pensionsantrittes feststellen, dass ich viel zu wenige Versicherungsjahre gesammelt habe und mit Blick auf das Pensionskonto feststellen, dass die Pension minimal ist.
Was kann man Menschen raten, die sich auf ein Feld begeben auf dem davon auszugehen ist, dass versteckte Beschäftigungsverhältnisse an der Tagesordnung sind?
Nach meinem Dafürhalten ist das erste, was zu machen sein wird, dass sich die Menschen überlegen, dass sie in irgendeiner Form in die Gesellschaft einzuordnen sind und sich selber in diese Gesellschaft auch einordnen - unabhängig davon, dass sie selbstverständlich samt und sonders autonome Subjekte sind, die tun und lassen können was sie freut und interessiert.
Dieser politische Blick auch auf die Arbeitslandschaft, der muss - das ist meine Vorstellung und mein Erleben mit zahlreichen, insbesondere auch jüngeren Klientinnen und Klienten - wieder stärker werden und sich vertiefen. Damit in Verbindung stellt sich auf der ArbeitnehmerInnenseite schon die Frage: schließe ich mich einer Gewerkschaft an, suche ich hier in einem Verein, in einem Freiwilligenverein Schutz, engagiere ich mich vielleicht dort sogar? Das ist die eine Seite, die aufzuwerfen ist. Die zweite ist, dass man natürlich auch hinter Institutionen wie der Arbeiterkammer voll und ganz steht und nicht diesen zahlreichen Sirenenrufen die derzeit erschallen und sagen, "weg mit diesen Institutionen und spart euch doch das Geld, das dafür eingezahlt wird", folgt, sondern sagt, gerade jetzt sind derartige Institutionen total wichtig.
Was sind Alarmsignale, wenn ich für jemanden beginne zu arbeiten und vermute: das sollte eigentlich ein Anstellungsverhältnis sein?
Das erste ist, zu überlegen: will ich tatsächlich in einer derart prekären Situation bleiben. Unter uns gesagt muss es ja jedem auffallen, dass es, wenn er Geld einnimmt, keine Steuer und keine Sozialversicherung zahlt, hier aller Voraussicht mit rechten Dingen nicht zugehen kann. Das zweite: man sollte natürlich Institutionen aufsuchen, die mit derartigen Situationen vertraut sind: hier bietet sich der Gang zur Arbeiterkammer und Gewerkschaft unbedingt an.
Ausgehend davon geht es schon auch darum, ein politisches Bewusstsein zu bekommen - vielleicht aus der eigenen Situation heraus. Denn der prekäre Arbeitsmarkt ist ja ein strukturelles Problem. Dass so viele keine Möglichkeit haben, auf diesem Arbeitsmarkt eine adäquate Beschäftigung zu bekommen, ist ja viel weniger ein persönliches, ein individuelles Problem - auch wenn die Medien und die Unterhaltungsindustrie das Gegenteil propagieren - als ein strukturelles Problem, auf das man geschlossen antworten muss. Als einzelner wird man hier wenig Chancen haben.
Was Menschen am Anfang ihres Berufslebens aber eben oft zu hören bekommen, ist: Wenn du das nicht machst, dann stehen hinter dir 500 andere bereit...
Dieser Punkt ist richtig. Aber letztlich ändert gerade dieser Umstand ja nichts daran dass man sich überlegen muss, ob man Zeit seines Lebens derjenige sein möchte, der genau mit dieser Angst vor dem Prekariat durch seine Berufslaufbahn getrieben wird.
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