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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

6. 4. 2016 - 18:26

The daily Blumenau. Wednesday Edition, 06-04-16.

Warum Filmmusiken immer martinezker und Romane immer dicker werden.

#Soundtrack-Scores #Blauwal-Bücher

The daily blumenau hat im Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst. Und bietet Einträge zu diesen Themenfeldern.
2016 wieder regelmäßig.

Trivia: Teil 2 dieses Textes hätte eigentlich schon an drei anderen Tagen erscheinen sollen. Zuerst am 18.3., dann letzten Freitag und dann gestern. Zweimal kamen beschäftigende Dringlichkeiten, einmal mangelnde Fitness dazwischen. Dass es nun just heute, beim vierten Versuch einen sehr seltenen Profil-Absturz gab, würde den Verschwörungs-Theoretiker in mir auf den Plan rufen - wenn da einer wäre.

Zwei unauffällige und deshalb medial kaum beschriebene Veränderungen kultureller Konventionen: der Film/TV-Soundtrack darf (nach "The Knick") wieder mehr und verstört bis hinein in die Tatorte. Und: der deutschsprachige Roman pendelt sich auf 800 Seiten ein, hat sich also in den letzten Jahren verdoppelt bis verdreifacht.

1) Düstere Elektronik legt eine tiefenpsychologische Tonspur

Es war diesen Sonntag nun schon der zweite Tatort in Folge, bei dem es auf/augenfällig war: die unterlegte Spannungsmusik, der Soundtrack kam nicht wie sonst branchenüblich aus der gediegen orchestrierten Schule oder der an den Mainstreampop angelehnten Ecke. Es war vielmehr düsterer elektronischer Sound - bei Makatsch in Freiburg durchgehend, bei den jubilierenden Münchnern eher situativ eingesetzt - der nicht nur Verstörungselemente verstärkt, sondern eine zweite Gefühlsebene legt, manch hellen, heiteren Moment andunkelt. Und das nicht nur ergänzend wie die ebenso interessanten Filmarbeiten von Trent Reznor, sondern in fast schon streitbarer Kontrastierung.

Das ist eine Tendenz, die mir seit einigen Monaten auffällt; international sowieso, jetzt ist sie aber auch im deutschsprachigen Raum angekommen. Ausgangspunkt ist wohl der in sich eigenständigste, packendste und unter Auskennern auch bestdiskutierteste Score der letzten Zeit: Cliff Martinez' elektronisches Gegurgel für The Knick.

The Knick

Cinemax

The Knick

Martinez, der als Teilzeit-Drummer für die Chili Peppers und später als Scorer für Steven Soderbergh bekannt wurde, wuchtet da den größtmöglichen musikalischen Gegensatz in ein 1900-Setting, das jeder andere Regietreibende mit zeitgenössischer Jazz/Blueserei oder den handelsüblichen Williams/Zimmer-Sounds zugekleistert hätte.

Martinez' Sound fräst eine Tonspur, die einen zusätzlichen Raum öffnet, emotionale Überhöhungen und Unterstreichungen vornimmt. Die ersten paar Minuten von The Knick steht jeder Zuschauer unter Schock und versucht sich gegen das scheinbar Artfremde zur Wehr zu setzen - danach folgt die Erkenntnis, dass man sich eigentlich jeden Soundtrack genau so wünscht, als im Hintergrund agierende Traumebene, die mit der Handlung nur assoziativ verbunden ist, sie nicht fingerzeigartig unterstreicht, sondern als Geräuschkulisse ergänzt.

Cliff Martinez

CC BY-SA 2.0, flickr.com, User: Raffi Asdourian / zaffi

CC BY 2.0; Cliff Martinez

Selbst Scores vergleichsweise konventioneller Publikums-Filme, jenseits radikaler Serien-Epen wie eben The Knick, schaffen so einen entscheidenden Schritt in Richtung unterschwellige Bedrohlichkeit und machen so TV-Erzählungen nicht nur deutlich filmischer, sondern ändern so auch die Hör/Seh-Gewohnheiten einer Generation.

Ein bissl erinnerte mich sowohl diese Entwicklung als auch der Martinez-Sound ja an das, was Philip Quehenberger in den ersten Folgen von Willkommen Österreich versuchte (ehe man auf die deutlich konventionelleren, andere, eher gesellschaftspolitische Dogmen brechenden Russkaja setzte): eine Tonspur der latenten Bedrohung zu legen und so ein klassisch-satirisches Programm noch einmal zu überhöhen. Damals war die Zeit nicht reif. Heute würde es funktionieren.

2) Romane mit weniger als 800 Seiten - wie distinktionsgewinnlos!

Lobo, nicht Klaus-Werner, sondern Sascha, der mit dem Irokesen, hatte es unlängst thematisiert: dass so gut wie jedes Sachbuch auf drei Viertel seiner zumeist aufgeblasenen Umfänge verzichten könnte, ohne dass dadurch Qualität verloren ginge.

Kaum jemand hat ihm widersprochen.

Kaum jemand hat aber angemerkt, dass es sich im Belletristik-Bereich, also bei Fiction, den Romanen genauso verhält. Heinz Strunk, dessen Goldener Handschuh mit normaler Länge auskommt, hat am Sonntag in Denis Schecks Druckfrisch vom "Walfisch" gesprochen, dem überaus dicken Buch, das jeder Autor, jede Autorin, der/die etwas auf sich hält, aktuell glaubt herausbringen zu müssen.
Und tatsächlich: innerhalb von recht kurzer Zeit ist die durchschnittliche Seitenanzahl explodiert, hat sich verzwei- bis verdreifacht.

Heinz Strunk

Dennis Dirksen

Richard Kämmerling stellt in der Welt zehn wichtige aktuelle Romane mit einem Durchschnitt von 864 Seiten zusammen - u.a. mit dem Leipziger Literaturpreisträger Vesper (der allein auf über 1.000 Seiten kommt), aber auch Setz oder Glavinic. Glavinic, der einstige Meister der sprachlichen Knappheit, Österreichs Hemingway. Kämmerling lobt ironisch Juli Zeh für die "weise Selbstbescheidung" auf nur 642 Seiten.

In der Wiener Zeitung zählt Gerald Schmickl noch Theo Dorn oder Maxim Biller (der die Wälzer dann auch noch ausladend zu besprechen droht) dazu und höhnt über den unhöflichen Trend zu dicken Büchern. Zitat: "Es ist schon paradox: Da zeigen alle Studien, dass die Aufmerksamkeitsdauer und die Lesezeiten allgemein signifikant zurückgehen - und die Schriftsteller/innen schreiben immer dickere Bücher."

Wahrscheinlich ist dieses Paradox aber auch der Auslöser; der Kick, warum das Klüngel aus Verlagen, Autoren, Rezensenten und anderen im Literaturbetrieb Tätigen das fortschreitende Ausufern noch befeuern.

Es geht nämlich um Distinktionsgewinn, ums Vorzeigen, ums Protzen. Es geht ums "Seht her. Ich bin so unangepasst und absichtlich aus der Zeit gefallen, dass ich mir das Lesen eines 900-Seiten-Schinkens leisten kann." Denn dafür sind schon einmal zwo, dro Tage veranzuschlagen. Zeit für Kulturrezeption haben als der ultimative Bildungsbürger-Luxus. Und das zählt als Währung in speziellen Kreisen.

Wobei auch hier eher der Schein als das Sein zählt. Ich erinnere mich, dass mein Vater Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" jahrelang auf seinen Nachtkästchen liegen hatte und es so dann tatsächlich irgendwann fertig gelesen hatte. Bei einem Jahrhundertwerk noch einsichtig. Wenn nun aber quasi alle relevanten Romane einer Halbsaison an Musils 1.000-Seiten-Vorgabe knabbern, kann sich das nicht ausgehen. Es wird also wohl eher so sein wie immer, eben etwa bei Musil: die Behauptung, den Wälzer gelesen zu haben, reicht auch. Selbst wenn es dann nur der Rezensent des jeweiligen Vertrauens getan hat und man das Gehörte-Gesehene-Gelesene nachplappert.