Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Flüchtlinge in Überlebensnot "

Chrissi WilkensAthen

Journalistin in Griechenland

1. 3. 2016 - 17:22

Flüchtlinge in Überlebensnot

In Griechenland spielen sich täglich dramatische Szenen ab. Schutzsuchende suchen nach irgendeiner Möglichkeit, Mitteleuropa zu erreichen, nachdem Österreich beschlossen hat, die Obergrenze einzuführen. Die EU bereitet einen Notfallplan vor.

Schön war's...
Das Projekt "Europa" wird gerade beerdigt, ein Zombie ist es schon länger. Und vom Nachfolgemodell ist nichts Gutes zu erwarten. Eine Polemik.

Die humanitäre Krise in Griechenland, die spätestens ausgebrochen ist, nachdem die Einreisebestimmungen für Schutzsuchende verschärft wurden, nimmt gefährliche Züge an. Nur wenige Flüchtlinge schaffen es über die Grenze, sie schlafen unter freiem Himmel und in Parkanlagen - oder im Grenzort Idomeni. Viele harren in Massenlagern aus und klagen über verfallenes Essen, das vom Militär zubereitet wird. Obdachlose unbegleitete Minderjährige werden für wenige Euros zur Prostitution gezwungen.

Bei dem Notfallplan, den die EU vorbereitet, geht es unter anderem um die Verstärkung der Aufnahmekapazität.

Flüchtlinge in Griechenland

Chrissi Wilkens

Ob dies allein ausreichend wird, um mit der eskalierenden humanitären Krise fertig zu werden, ist fraglich. Denn die Lage verschärft sich von Tag zu Tag. Im ganzen Land halten sich derzeit Schätzungen zufolge bis zu 30.000 Schutzsuchende auf. Entlang der Nationalstraße von Athen nach Thessaloniki warten Reisebusse auf ein Signal, um an die Grenze weiterzufahren.

In Idomeni befinden sich bereits mehr als 9.000 Flüchtlinge. Helfer und NGOs warnen an der Grenze davor, dass sie bald nicht mehr in der Lage sein werden, diese Menschen mit Essen zu versorgen. Beobachter fürchten, dass in den kommenden Tagen die Situation an der Grenze gefährlich eskalieren wird.

Flüchtlinge in Griechenland

Chrissi Wilkens

Die Flüchtlingskrise - wohin steuert Europa?

Österreich will die Flüchtlingsroute über den Balkan weitgehend abriegeln und nimmt nur mehr 80 Asylansuchen pro Tag an der Südgrenze entgegen. Das führt zum Dominoeffekt auf dem Westbalkan, immer weniger Länder lassen Flüchtlinge durchreisen. Gleichzeitig kommen aber tausende Schutzsuchende täglich in Griechenland an und sitzen dort nun fest. Die griechische Regierung hat sogar ihre Botschafterin aus Wien zu Konsultationen nach Athen zurückgerufen. Wir diskutieren am Dienstag, den 1. März, ab 21 Uhr in FM4 Auf Laut und im Anschluss für 7 Tage on Demand.

Die Zahl der Ankünfte in Griechenland bleibt weiterhin hoch. Täglich kommen durchschnittlich 2.000 neue Flüchtlinge von der türkischen Küste in Griechenland an. Seit Anfang des Jahres sind nach Angaben des UNO-Flüchtlingsrats bereits mehr als 120.000 Personen hier gestrandet.

Premierminister Alexis Tsipras forderte erneut eine gleichmäßige Verteilung der Flüchtlinge in der EU. Er werde keinem EU-Beschluss zustimmen, der dies nicht vorsehe, sagte er in einem Interview. Dies gilt auch für den am kommenden Montag geplanten Gipfel mit der Türkei in Brüssel. Laut Angaben des UNO-Flüchtlingsrats wurden im Rahmen des Relocation-Programms nur 325 Schutzsuchende von anderen EU-Ländern aufgenommen, obwohl bereits versprochen worden war, 66.400 Flüchtlinge von Griechenland in andere Ländern zu verteilen.

Kita hält ihren dreijährigen Sohn fest an ihren Händen und blickt in die Leere. Von diesem EU-Gipfel und der aktuellen Debatte ist ihr nichts bekannt. Die afghanische Familie versucht in einer Notsituation zu überleben. Sie schlafen seit vier Tagen zusammen mit anderen Flüchtlingen auf Decken und Pappkartons unter einem Baum auf dem Viktoria-Platz in Athen.

In den Baumästen hat Kita zerrissene Plastiktüten befestigt, um ihre Familie vor dem Regen zu schützen. Die 21-jährige Afghanin will so schnell wie möglich an die mazedonische Grenze, obwohl den Flüchtlingen aus Afghanistan seit mehreren Tagen der Durchgang verwehrt wird. Auch Syrer und Iraker kommen nur weiter, wenn sie einen Pass oder Personalausweis haben. "Alle Flüchtlingslager in Athen sind bereits voll, deswegen schlafen wir hier. Ich will nicht in Griechenland bleiben, weil uns hier nicht geholfen werden kann. Die Hälfte meiner Familie ist bereits in Deutschland", sagt Kita.

Mann im Rollstuhl, Flüchtling in Griechenland

Chrissi Wilkens

Neben ihr sitzt ein 85-jähriger Mann aus Afghanistan im Rollstuhl. Sein Sohn Mohsen hat ihn und den Rest der Familie auf den Platz gebracht. Sie suchen verzweifelt nach einer Unterkunft, sagt er. "Wir waren vorher im Flüchtlingslager in Elliniko. Es war überfüllt und es gab kein Essen. Wir sind hierher gekommen, um zu sehen, ob wir hier Hilfe bekommen können." Den Flüchtlingen, die in Griechenland ankommen, ist bewusst, dass sich das Land in einer tiefen Krise befindet. "Hier können wir nicht überleben. Bitte öffnet die Grenze!", sagt Mohsen.

Der Viktoria-Platz ist überfüllt und eine Art Treffpunkt für Schutzsuchende. Es gibt keine Toiletten oder andere Strukturen. Es riecht nach Urin und Abfall. Mitarbeiter von NGOs rennen hin und her und verteilen Wasser und Decken. Wir sind überfordert, sagt einer von ihnen. "Milch, Brot, Decken, Kleidung. Es sind die Spenden von einfachen Menschen, die wir hier verteilen. Das ist das einzige, was wir machen können." Immer noch steht die Mehrheit der Griechen solidarisch den Flüchtlingen gegenüber - trotz der eigenen finanziellen Not. Laut einer aktuellen Studie haben mehr als fünf der etwa elf Millionen GriechInnen Flüchtlingen in irgendeine Weise geholfen.

Flüchtlingskind

Chrissi Wilkens

Als ein älterer Grieche Kekse am Viktoria-Platz verteilt, stürmen hungrige Flüchtlingskinder und Erwachsene auf ihn zu. Obwohl er nur 420 Euro Rente monatlich bekomme, habe er 30 Euro für die Flüchtlinge ausgegeben, sagt Nikos. "Wir versuchen, soweit es geht zu helfen. Denn sie haben ihre Häuser, ihr Vermögen hinter sich gelassen und wissen nicht, in welchem Land sie enden werden."

Im Hafen von Piräus, ein paar Kilometer vom Athener Stadtzentrum entfernt, versucht Awa aus Gambia, ihr elf Monate altes Baby unter ihrem Anorak zu wärmen. Die Familie schläft unter einer Bank im offenen Wartebereich. Sie sind gestern von der Insel Lesbos angekommen. "Ich muss draußen schlafen. Ich kenne niemanden hier. Ich hab kein Geld. Mit meinem Baby muss ich hier schlafen. Es ist gefährlich, aber was soll ich machen?"

In einem kleinen Lager in eine Wartehalle ordnen Freiwillige die Lebensmittel und Kleidung, die einfache BürgerInnen vorbeibringen. Maria, eine 33-jährige Helferin, ist empört über die Haltung der EU und des griechischen Staates. "Es sind nur Freiwillige hier, die den ganzen Tag helfen. Der Staat und die EU tun nichts. Es gibt kein Essen, kein Wasser, keine Struktur. Babys schlafen draußen zusammen mit den Ratten." Im Hafen ist gerade der Migrationsminister Giannis Mouzalas ankommen. Die Mitglieder einer syrischen Hilfsorganisation laufen zu ihm und fragen besorgt über die aktuellen Entwicklungen an den Grenzen. Er schätzt, dass ca. 70.000 Schutzsuchende in Griechenland festsitzen werden, wenn die Grenzen ganz geschlossen werden. Schätzungen gehen mittlerweile von 100.000 aus.

Flüchtlingslager in Griechenland

Chrissi Wilkens

Wo aber werden all diese Menschen dann untergebracht? "Wir richten ständig Lager für sie ein. Wenn Österreich nicht die Grenzen geschlossen hätte, wären diese Lager rechtzeitig fertig geworden. Meine größte Sorge ist, so schnell wie möglich für diese Menschen, aber auch für die griechische Bevölkerung, würdevolle Bedingungen zu gewährleisten", sagt uns Mouzalas. Die griechische Regierung hat ein EU-Hilfspaket in der Höhe von 470 Millionen Euro beantragt, heißt es in den Medien. Damit sollen an die 100.000 Plätze geschaffen werden - in Hotels und Auffanglagern.

Flüchtlinge in Griechenland

Chrissi Wilkens

Am Viktoria-Platz versucht Muhtar, ein 23-jähriger Mann aus Afghanistan, Informationen über die Lage an der Grenze zu erhalten. Er hat gehört, dass am Montag Flüchtlinge den Grenzzaun teilweise niedergerissen haben. Die Grenzpolizei setzte Tränengas gegen sie ein.

Am Platz kommen immer wieder Schlepper vorbei. Mehr als 4.000 Euro verlangen sie, um die Flüchtlinge von Athen über die Grenze zu bringen - zum Beispiel durch die Berge in Albanien oder mit Schiffen von Westgriechenland nach Italien. Vor ein paar Tagen, als die Grenzen für Afghanen noch offen waren, lag der Schlepperpreis bei 2.000 bis 2.500 Euro. Muhtar hält nichts davon. "Wir haben genug von den illegalen Wegen. Es reicht! Illegale Optionen sind keine guten Optionen. Es ist zu gefährlich. Ich selbst habe fünf tote Menschen gesehen bei meiner Reise durch Pakistan, Iran und die Türkei." Experten warnen vor neuen, gefährlicheren Wegen, die die Flüchtlinge im Mittelmeer suchen, um Europa zu erreichen, nachdem beschlossen wurde, NATO-Schiffe in der Ägäis einzusetzen. Kriminelle Organisationen bereiten sich bereits intensiv vor und vor allem Häfen in Ägypten und Libyen könnten der neue Startpunkt von Flüchtlingsbooten werden.

Flüchtlinge in Griechenland

Chrissi Wilkens