Erstellt am: 1. 3. 2016 - 19:00 Uhr
Schön war's...
FM4 Auf Laut
Die Flüchtlingskrise - wohin steuert Europa? Am Dienstag, den 1. März, von 21 bis 22 Uhr auf FM4 und im Anschluss für 7 Tage im FM4 Player.
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Ist es nicht erstaunlich, mit welcher Verve das vereinte Europa gerade an die Wand gefahren wird? Ist es nicht bizarr, wie das politische Establishment jeden von den populistischen Maulhelden hingeworfenen Giftköder freudig und ratzeputz auffrisst?
Ob Cameron mit seinem Brexit-Theater, Hollande mit seinem Ausnahmezustand als Dauereinrichtung oder unsere Regierung und ihr zynisches Balkan-Domino: es wird gezündelt an allen Ecken und Enden, nicht immer, aber immer öfter dreht es sich dabei um Nichtigkeiten, und wenn sich die angeheizte Dynamik weiter fortsetzt, dann wird's das gewesen sein mit der europäischen Einigung.
"We cannot accommodate any more refugees in Europe, that's not possible."–Manuel Valls, Prime Minister of France
Posted by Bruno Jäntti on Dienstag, 16. Februar 2016
So wie es bei Camerons Versagen im Umgang mit dem Rechtspopulismus um Lappalien geht - der Anteil der EU-Ausländer an den Sozialleistungen in UK liegt im Promillebereich - so hat auch die Flüchtlings-Bewegung nach Europa, betrachtet man das Gesamtbild, im Grunde lächerliche Ausmaße für ein Volk von über 500 Millionen Menschen. Viel ärmere Länder leisten da ungleich mehr als die reichste Weltgegend, Europa.
Das europäische Volk will Flüchtlinge aufnehmen
Flüchtlinge in Überlebensnot
In Griechenland spielen sich täglich dramatische Szenen ab. Schutzsuchende suchen nach irgendeiner Möglichkeit, Mitteleuropa zu erreichen, nachdem Österreich beschlossen hat, die Obergrenze einzuführen. Die EU bereitet einen Notfallplan vor.
Betrachtet man aktuelle Umfragen, nach denen eine überwältigende Mehrheit der Europäer_innen sich für eine Aufnahme und gerechte Verteilung der vom Syrienkrieg Vertriebenen ausspricht, so kommt man nicht umhin, hinter dem aufgeblasenen Theater auch eine hidden agenda zu vermuten. Denn die Lösungsansätze sind, wieder einmal, äußerst unkreativ und laufen, wieder einmal, auf die Abschaffung von sozialen und rechtlichen Standards für alle hinaus. Was im Spiel mit den Ängsten diesmal zur Disposition steht, ist das Europa ohne Grenzen - und damit eine der für die Bürger_innen spürbarsten Errungenschaften der EU. Nicht angetastet werden die freien Kapital- und Warenströme, deren negative Auswirkungen vor allem, aber nicht nur in der Finanzkrise zu spüren waren - mit TTIP sollen sie gleichzeitig sogar massiv ausgebaut werden.
Aber ist das Projekt eines gemeinsamen Europas nicht schon seit Langem auf dem Weg zum Zombie, dem derzeit nur der letzte Rest Leben ausgetrieben wird? Die unterschiedliche Behandlung von Kapital und Menschen zeigt sich seit Jahrzehnten an den EU-Außengrenzen, wo schon vor dem Syrienkrieg die Zahl der Toten die an der Ost-West-Grenze im Kalten Krieg ums Zigfache überstiegen hat.
Über euer scheiß Mittelmeer / käm ich, wenn ich ein Turnschuh wär / oder als Flachbild-Scheiß / ich hätte wenigstens einen Preis.
Der Zombie Europa
Heuchlerei zeigt die EU auch in anderen Bereichen: werden innerhalb Europas gemeinsame soziale, ökologische und rechtliche Standards beschworen, geht Europa außerhalb seiner Grenzen nicht selten mit Rücksichtslosigkeit und Brutalität in den weltweiten Wettbewerb. Plakativstes Beispiel ist die Fischerei, wo europäische Fangkonzerne begonnen haben, die somalischen Gewässer leer zu fischen, kaum war das Land als failed state nicht mehr in der Lage, seine Küsten vor einem solchen Raubzug zu schützen. Die Umschulung der somalischen Fischer auf alternative Einkommensquellen wurde mit spektakulären Piratenjagden und -prozessen beantwortet.
Und auch der Krieg in Syrien ist ein Paradebeispiel: die Flüchtlingsbewegung über den Balkan wurde ja nicht von Angela Merkel ausgelöst, sondern zunächst von einem Krieg, der nicht verhindert wurde und an dem auch die europäische Waffenindustrie gut verdient, und dann von der Weigerung europäischer Statten, darunter Österreich, ihre finanziellen Zusagen für die Flüchtlingsbetreuung in den syrischen Nachbarländern zu erfüllen. Als den Menschen in den Lagern die eh schon kargen Rationen aus finanziellen Gründen halbiert wurden, taten sie, was alle von uns täten: aufbrechen dorthin, wo es eine Chance zum Überleben gab.
APA/AFP/LOUISA GOULIAMAKI
Die EU war tatsächlich einmal ein Friedensprojekt
Die europäischen Werte - der Gründungsgedanke einer EU, die nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs lange Zeit ein tatsächlich sehr erfolgreiches Friedensprojekt war - sind nur noch vor Wahlen und bei Nobelpreisverleihungen hoch im Kurs. Gerade als im Zuge der Finanzkrise und ihrer Bewältigungsversuche Solidarität mit Griechenland, Spaniern und Portugal eingefordert wurde, wurden diese europäische Werte als Bedrohung wahrgenommen, als Bedrohung der Vormachtstellung der nord- und westeuropäischen Länder unter Führung Deutschlands und der neoliberalen Staatsideologie. Die Euro-Länder und die großen Finanzinstitutionen haben Griechenland, Spanien und Portugal nur Hilfen gewährt, damit diese ihre Gläubiger bedienen konnten, und nur als Gegenleistung für eine Zerstörung des Sozialstaats und das Verschachern staatlicher Unternehmen, unter anderem an Konzerne aus den sog. Geberländern. Von der sogenannten Rettung haben vor allem die Retter profitiert - die europäische Solidarität als Farce.
Und in der Frage der Immigrations- und Asylpolitik ist das Herumgeeiere rund um die unbrauchbare Dublin-Verordnung ja seit Jahrzehnten schon zu beobachten. Wen wundert's, dass die meisten EU-Mitglieder östlich des ehemaligen Eisernen Vorhangs europäische Werte ausschließlich ökonomisch definieren, und sich alles außer das Handaufhalten als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten verbitten?
Liberale Apparatschiks
Der liberale Staat, seit Thatcher und Blair Idealbild und Leitmotiv der europäischen Politiker_innen, ist ein kalter Staat, ein Staat der ökonomischen Apparatschiks. Er lässt die Menschen allein und nennt das "Selbstverantwortung". Er arbeitet an der Vermehrung von Reichtum, aber nicht daran, dass alle etwas davon haben, denn alles, was das Leben lebenswert macht, ist Privatsache. Wann haben Regierung und EU zuletzt Armut zum Thema gemacht? Über allen politischen Entscheidungen, ja über allen Rechten schwebt der Grundsatz, die Besitzverhältnisse dürfen nicht in Frage gestellt werden - man denke nur an Merkels Diktum von der marktkonformen Demokratie. Schon das Ansprechen dieses Grundsatzes gilt als Sakrileg.
Das Erstarken des Rechtspopulismus, gerade rund um die Aufnahme von Flüchtlingen, ist auch das Ergebnis dieser Heucheleien - und dabei geht es nicht ums Geld. Denn wenn Menschen immer das Gefühl haben, nur als Arbeitskraft, Konsument und Kostenfaktor behandelt und mit allen anderen Bedürfnissen allein gelassen zu werden - ist es dann nicht logisch, dass ein Gefühl der Zurücksetzung entsteht gegenüber denen, die als Menschen, als Schutzbedürftige wahrgenommen werden? Natürlich liegt das an der Rhetorik und nicht an den politischen Angeboten der Populisten, denn die treiben die soziale Kälte, wie man überall dort sieht, wo sie mitregieren, ja noch auf die Spitze.
APA/ERWIN SCHERIAU
Doch die aktuelle österreichische Antwort ist die beschämendste: man behandelt die Flüchtlinge eben noch schlechter, als Verschubmasse in einem Machtspiel, und schiebt den schwarzen Peter denen zu, die ihn auch in der Finanzkrise schon gehabt haben: den Griechen. Die faseln ja auch immer irgendwas von Gemeinsamkeit und europäischer Lösung, und damit kann Europa außerhalb von Wahlkämpfen und Preisverleihungen halt nicht wirklich was anfangen.