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Petra Erdmann

Im Kino und auf Filmfestivals

14. 2. 2016 - 12:55

Was bisher geschah auf dem Planeten Berlinale

Der sensible Mann ist im Kommen, wie Andrew Neels Regiedebüt "Goat" oder "Boris sans Béatrice" zeigen. Außerdem: Jeff Nichols Sci-Fi-Chase-Movie "Midnight Special" und die herausragende Rolle des österreichischen Kinos.

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Was bisher geschah auf dem Planeten Berlinale: Der US-Amerikaner Jeff Nichols hat sein emotional packendes und eigenwilliges Sci-Fi-Chase-Movie vorgestellt. "Midnight Special" erzählt von einem Jungen - sagen wir mal ohne zu spoilern - mit Superkräften. Alton Meyers Vater (ein grandioser Michael Shannon, neben einer dezenten Filmmutter Kirsten Dunst) befreit seinen Sohn, der Scheiben und Tankstellen zum Explodieren bringen kann, aus den Fängen einer ominösen Sekte auf der "Ranch".

Vollkommen ironiefrei und prall mit Mysterien verhandelt Regisseur und Autor Nichols atemberaubend einen positiven Universalismus, der ihn selbst als kindlicher Filmfan geprägt hat. "Midnight Special" rankt sich um die Angst der Eltern, ihr Kind (irgendwann) mal zu verlieren. "Midnight Special" ist inspiriert von der tintenblauen Ästhetik von Steven Spielbergs "The close encounter of the third kind" und klar lässt auch eine Seelenverwandtschaft zu "E.T." attestieren.

Midnight Special: Bub mit Schwimmbrille liest Comics unter der Bettdecke

Ben Rothstein © 2016 WARNER BROS. ENTERTAINMENT INC. AND RATPAC-DUNE ENTERTAINMENT LLC

Midnight Special im Wettbewerb außer Konkurrenz.

Im neo-klassischen Hollywood-Kino ereignet sich Übermenschliches ganz en passant. Die physische und psychische Überforderung, rein theoretisch 400 Filme auf der Berlinale sehen zu können, ist nicht so leicht aufzulösen. Selbst bei den vier bis fünf Filmen, die ich täglich absolviere, müsste die Berlinale rund hundert Tage lang dauern. Wieland Speck, der Leiter der "Panorama"-Sektion, geht da schon praktischer vor bei seiner Auswahl. Im aktuellen unabhängigen Kino ist "The Sensitive Male", der sensible Mann, im Kommen. Abseits von testosterongeschwängerten Klischees ist "Schwach" das neue "Stark".

Berlinale-Filmprotogonisten im Sensibelchen-Test

Das US-Regiedebüt "Goat" von Andrew Neel etwa erzählt von einem feinfühligen Campus-Neuankömmling, der von seiner elitären Studentenverbindung "Guatanomo Style" gequält und gedemütigt wird. Die von James Franco mitproduzierte Gewaltspirale beginnt mit heftigen Slow-Motion-Partyekstasen und ausrastenden nackten Oberkörpern, so als erwarte einem an Intensität das Remake von Claire Denis "Beau Travail". Am Ende hat Neel ein zu offensichtliches, zerstörerisches, männerbündlerisches Selbstbild durchdekliniert, das die Basis weißer männerbündlerischer Leadership erahnen lässt.

Filmstill aus "Goats"

Berlinale / Andrew Neel

"Goat"

Mit ähnlich starkem Unbehagen gegenüber einem imposanten narzisstischen Businessman-Getue eröffnet der Kanadier Denis Coté seinen Wettbewerbsbeitrag "Boris sans Béatrice" In der Parabel des erfolgreichen Mannes, der geläutert von der Depression seiner Frau allzu schnell zum hilflosen Liebenden schrumpft, ist leider bald die Spannung raus. Die Coté Ego-Demontage hinterlässt dennoch starke visuelle Eindrücke, die einen auch mit einem amüsanten Auftritt von Bruce LaBruce, der Ikone des schwulen Underground-Kinos, in der Rolle des kanadischen Premierministers belohnen.

Filmstill "Boris sans Béatrice"

Meta films

Boris in "Boris sans Béatrice"

Im Bären-Rennen bleibt "Hedi" und sein zurückhaltender Titelheld. "Hedi" ist eine willkommene Abwechslung, wenn sich einmal aus der Perspektive eines Mannes die arabische Tradition der arrangierten Ehe mit der moderner Freiheit spießt. Dem tunesischen Regisseur Mohamed Ben Attia gelingt es mit seiner stillen und nuancierten Hauptfigur, die schleichende Emanzipation eingesessener Rollenbilder zu verkehren.

Post-Apokalypse made in Austria

Herausragend bleibt bisher die Rolle des österreichischen Kinos auf der Berlinale. Dokumentarist Nikolaus Geyrhalter konstruiert mit "Homo Sapiens" einen beeindruckenden Bilderessay. Der Kameramann und Regisseur schafft eine poetische, engimatische Sicht auf Orte, die von der Zivilisation verlassen und der Natur überlassen sind, und arrangiert den Entwurf einer neue Welt. Im menschenleeren Buchladen wehen, vermutlich nach der nuklearen Katastrophe in Japan, die Manga-Seiten, eine moosbeschichtete Hotelbar erinnert an Stanley Kubriks "Shining"-Feeling und rausarrangierte Schiffsleichen sind in Wiesensteppen gestrandet.

Filmstill aus "Homo sapiens"

Nikolaus Geyrhalter

"Homo Sapiens"

Ruth Beckermanns Film "Die Geträumten" ist ihr erster mit Schauspielern. Sie hat den Briefwechsel der liebenden Dichter Paul Celan und Ingeborg Bachmann verfilmt. Anja Plaschg aka Soap & Skin und Laurence Rupp stehen sich als Sprecher in einem Radiohörspiel gegenüber, die in den Aufnahmepausen in privaten Gesprächen das Wiener Funkhaus durchstreifen. Der formale Coup von Beckermann liegt in der Darstellung von Liebe und Literatur, ihrer Distanz und gleichzeitiger Intimität. Plaschg besticht in ihrer natürlichen Performance von Authentizität.

Anja Plaschg in "Die Geträumten"

Ruth Beckermann Filmproduktion

Anja Plaschg und Laurence Rupp in "Die Geträumten"

Kaum jemand jongliert mit vergangener und verpasster Zeit so gut wie die Filmemacherin Mia Hansen-Løve. Das hat die Französin mit ihrem French House-Film "Eden" zuletzt bewiesen und das hat Hansen-Løve mit ihrem Wettbewerbsbeitrag "L´Avenir" auch gestern Abend auf der Berlinale bravourös bestätigt. Isabelle Huppert muss sich als Philosophie-Lehrerin auch in ihren Gedankengebäuden neu verordnen, nachdem ihre Kinder aus dem Haus sind und der Ehemann sie wegen einer Jüngeren verlassen hat.