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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

17. 1. 2016 - 08:00

Klirrende Kälte im Kinosaal

Notizen zu Alejandro Gonzales Iñárritus schneeverwehtem Rachewestern "The Revenant".

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Während draußen ein eisiger Wind bläst, sich das Wetter aber ansonsten eher zurückhaltend verhält, kämpfen sich in den beiden wichtigsten aktuellen Filmwerken die Protagonisten durch eine unerbittliche Schneewüste. Über den einen dieser Winterwestern, Quentin Tarantinos "The Hateful 8", wird man ausführlich reden müssen, wenn er demnächst endlich anläuft. Der andere Streifen, in dem raue Kerle durch den Frost taumeln, ist aber bereits hierzulande zu sehen. Und man kommt an Alejandro Gonzales Iñárritus "The Revenant" nicht vorbei.

Nur soviel: Der Unterschied zwischen diesen beiden überlangen Filmen über die blutdurchtränkte Vergangenheit des nordamerikanischen Kontinents könnte größer nicht sein. Es geht um die Differenz zwischen Reden und Schweigen, Wort und Geste, den ausufernden Dialogkaskaden eines Tarantino und der entfesselten Kamera bei Iñárritu.

An diesem Gegensatz, habe ich unter anderem in meinem kleinen Rückblick auf das vergangene Filmjahr klarzustellen versucht, scheiden sich derzeit die Geister. Doch nur wenn sich auch das ambitionierte Kino abseits der Comic-Helden-Weltraum-Multiplex-Spektakel formaler Überwältigungsmechanismen besinnt, so meine These, wird es im Angesicht immer komplexerer Erzählformate im Serien-TV überleben können. Nur wenn im größtmöglichen, stockdunklen Saal, eingezwängt in ein kommunales Erlebnis, der ganze Körper des Zusehers zu einer fast schon sakralen Erfahrung, ja, genötigt wird, gibt es auch eine Zukunft abseits von Flatscreens und flackernden Laptops.

The Revenant

20th Century Fox

Mensch gegen unbarmherzige Natur

Oscarnominierungen 2016
"The Revenant" wird in 12 Kategorien nominiert

Golden Globes 2016
Bärenkostüme, biertrinkende Engländer und ein geehrter Sylvester Stallone.

"The Revenant" ist, in nicht wenigen atemberaubenden Momenten, dieser Zukunft sehr nahe, die gleichzeitig an die archaischen Anfänge des Theaters und der darstellenden Künste erinnert. Wenn der Film ab und zu schwächelt, dann weil überraschenderweise doch mehr geredet wird als zu erwarten war. Die totale Immersion, an der Alejandro Gonzales Iñárritu und sein Ausnahmekameramann Emmanuel Lubezki arbeiten, dieses Gefühl, dort draußen tatsächlich mit einer Gruppe von Trappern den Widrigkeiten des Daseins zu strotzen, reißt stets dann kurz ab, wenn in manchen Sätzen plötzlich Platitüden verhandelt werden. Oder recht konventionelle narrative Mänover vorbereitet.

Aber der Reihe nach: In einer langen Anfangssequenz, die alleine schon ihresgleichen sucht, katapultiert uns "The Revenant" mitten in die schneeverwehte Wildnis von Missouri, wo irgendwann in den 1820er Jahren eine Jagdexpedition im Chaos endet. Amerikanische Ureinwohner überfallen die Truppe, Pfeile hageln über die Leinwand, bleiben in gurgelnden Hälsen stecken, Schüsse zerfetzen im Gegenzug Indianerkörper. Der Schrecken wirkt unglaublich dreidimensional, aber ganz ohne lästige Brillen.

Nach ihrer Flucht gibt die unbarmherzige Natur den Felljägern beinahe den Rest. Für den Scout Hugh Glass (Leonardo DiCaprio), einen Mann, der zwischen den Welten steht, der mit einer Pawnee-Indianerin einen Sohn hat, kommt es aber noch schlimmer. Nach einer Attacke durch einen Grizzly lassen ihn seine Kameraden vermeintlich sterbend zurück. Aber Glass kämpft gegen den Tod, erst recht, nachdem sein finsterer Kompanion Fitzgerald (Tom Hardy) hinterrücks sein Kind ermordet.

The Revenant

Centfox

Der Kameramann als wahrer Star

Der Drang nach Vergeltung treibt Hugh Glass schwer verletzt durch die winterliche Landschaft, wir folgen seinem stummen Überlebenskampf hautnah, oft bis der Atemhauch die Kameralinse beschlägt. Es ist dieses Mittelstück von "The Revenant", in dem handlungstechnisch am wenigsten passiert, wo der Film ganz bei sich ist. Denn der Plot ist nebensächlich, auch wenn das Martyrium von Hugh Glass angeblich auf einem wahren Vorfall beruht.

Dieser wahnwitzig ambitionierte und grausam schöne Film will nicht weniger als die Bildsprache des Kinos verändern. Und das gelingt Alejandro Gonzales Iñárritu, zu dessen Schaffen ich bis zum fantastischen "Birdman" ein äußerst zwiespältiges Verhältnis pflegte, wirklich immer wieder. Man wird Filme, die die Ära des wilden Westens auch nur ansatzweise verklären, nach "The Revenant" noch ein Stück kritischer betrachten.

Auch wenn Emmanuel Lubezki, dem beispielsweise "Gravity" alles verdankt und der in Kollaboration mit Terrence Malick bereits Kameraeinstellungen für die Ewigkeit erschaffen hat, der wahre Star dieses Films ist, zusammen mit der unfassbaren Landschaft natürlich, müssen noch andere erwähnt werden. Leonardo DiCaprio etwa, längst ein verlässlicher Garant für darstellerische Grenzüberschreitungen, entäußert sich in der Hauptrolle, mutiert mit jedem grotesken Schrei der Wut und Verzweiflung zu Hugh Glass.

The Revenant

Centfox

Elementares Leinwandereignis

Der bis zur Unverständlichkeit nuschelnde Tom Hardy, Jungtalent Will Poulter and vor allem der großartige Domhnall Gleeson überzeugen aber auch als rauhe Trapper und Soldaten. Der Soundtrack von Ryûichi Sakamoto und Alva Noto verbindet angemessenes Pathos und aufwühlendes tribalistisches Getrommel mit schwebenden Ambientsounds.

Ohne das Klischee von der Kunst, für die man leiden muss, bedienen zu wollen, muss man in diesem Fall doch konstatieren: Die anscheinend unmenschlichen Dreharbeiten in kanadischen Wäldern weit unter der Gefriergrenze haben sich ausgezahlt. Man vermeint die klirrende Kälte im Kinosaal beinahe zu spüren. Weil Alejandro Iñárritu aber auch ein politischer Filmemacher ist, lässt sich der Subtext des individuellen Rachedramas nicht übersehen: Jeder blutige Fetzen Fell, jeder gefällte Baum, jeder tote Native American erzählt von den Anfängen des Kapitalismus, von der Domestizierung der Natur und dem Ursprung einer Haltung, der wir später Umweltkatastrophen, Burgerketten und kriegerische Invasionen verdanken.

The Revenant

Centfox

Wenn Regisseur Iñárritu dabei stellenweise der Indianermystik zu sehr verfällt und esoterische Visionen aufblitzen, verliert wie bei manchen erwähnten Dialogen das brachiale Körperkino an Dringlichkeit. Als elementares Leinwandereignis, wie gemacht für die Kirche Kino, kommt man an "The Revenant" aber keinesfalls vorbei. Und ja, die Szene mit dem Bären ist für die Ewigkeit und danach.