Erstellt am: 26. 11. 2015 - 16:45 Uhr
Der Kopf der Schlange
Ich könnte dem britischen Unterhaus den ganzen Tag zuhören, wie es in aller Vernunft die Bombardierung von Syrien bespricht. So zivilisiert ist das alles.
David Cameron hatte einen guten Tag heute. Nachdem er in aller Ruhe die zur Debatte stehenden Luftangriffe als einzige besonnene Handlung (und auch keine Handlung sei eine Handlung, und berge das größere Risiko) verkauft hatte, gab er allen kritischen Fragen zuerst einmal recht, ehe er sie freundlich vom Tisch wischte.
Er hat viel gelernt seit 2013, als sein von staatsmännischem Elan beflügeltes Ansinnen, Präsident Assads Regierungstruppen zu bombardieren, von einem spontanen Bündnis aus der Labour Party und Rebell_innen in seiner damaligen Koalitionsregierung abgeschmettert wurde. Zu tief saß noch das Irak-Trauma.
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Eine Katastrophe für Cameron. Premierminister, die zum Krieg aufrufen, haben das patriotische Unterhaus traditionell immer hinter sich. Jene bisher größte Niederlage in diesem Job will er nun a) nicht wiederholen und b) mit einem neuen Mandat für Bomben über Syrien, diesmal gegen Daesh, tilgen.
Die Mittel, die er heute dazu wählte, waren betont sanft. Sicher, seine Rede enthielt die bei Kriegsdebatten im Vereinten Königreich üblichen, emotionalen Erpressungsfloskeln wie "we must not shirk our responsibility" (das Wort "shirk" erinnert an "shirker", den spätestens seit dem Ersten Weltkrieg als Archetyp dämonisierten Drückeberger und Volksverräter). Ansonsten hielt Cameron sich aber an seine Linie der unerbittlichen Freundlichkeit.
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Sein potentieller Widerpart, Labour-Chef Jeremy Corbyn, war über mehrere Wochen hinweg medial für diesen Moment zurechtgeboxt worden.
Erst einmal wegen seiner Aussage, dass er - falls er je als Premier mit der britischen Nuklearstreitmacht betraut sein sollte - in keinem Fall den roten Knopf drücken würde. Nun versteh ich ja schon, dass der hinter Nuklearwaffen stehende, irre Bluff mit so einem Bekenntnis praktisch außer Kraft gesetzt wird. Aber die Art, in der Presse, Regierung und eine wachsende Zahl rebellierender Labour-Parlamentarier_innen vereint "Push the button! Push the button!" blökten, als dürfte nukleare Massenvernichtung für einen echten Machtpolitiker jetzt überhaupt kein Ding sein, konnte einem schon Angst machen.
Der nächste Angriff auf Corbyns Glaubwürdigkeit galt seiner Weigerung, der Polizei nach den Anschlägen in Paris eine spezielle "shoot to kill"-Lizenz im Kampf gegen Terrorist_innen zuzubilligen. Corbyn meinte, es gäbe auch andere Möglichkeiten, Leute zu stoppen, es käme auf die Situation an etc.
Wie verantwortungslos, hoffnungslos naiv, weltfremd, hallte es durch den Medienwald (Sky News nannte den Labour-Chef sogar bereits "Jihadi Jez"). Die Möglichkeit, dass ein dunkelhaariger, nicht ganz blasser Mensch wie zum Beispiel der am 22.7.2005, einen Tag nach der zweiten Runde der Anschläge in London, von einem Zivilkommando der Polizei in der Underground spontan hingerichtete Brasilianer Jean Charles de Menezes irrtümlich für einen Terroristen gehalten werden könnte, obwohl er gar keiner ist, stand nicht zur Debatte. "Shoot to Kill!" Ein Weichling, wer da nicht mitgeht.
Dazu kam schließlich noch der Konflikt innerhalb der Labour Party über die bisher von der Parteilinie mitgetragene, von Corbyn persönlich abgelehnte, anstehende Erneuerung des britischen Nuklearraketensystems "Trident", geschürt von Seiten der - grundsätzlich gegen eine solche Neubewaffnung gerichteten - Scottish National Party.
Vorgestern brachte die SNP eine parlamentarische Resolution zum Thema ein, bei der Corbyn seinen Abgeordneten zur Vermeidung eines internen Konflikts nur das Fernbleiben empfehlen konnte (14 hielten sich nicht daran und stimmten mit der Regierung, 6 stimmten mit der SNP).
Im Gegensatz zu Ed Miliband 2012 stand Jeremy Corbyn mit seinen Fragen an Cameron diesmal also so gut wie alleine da, seine Formulierungen waren dementsprechend gemessen und unaufgeregt, man könnte auch zahnlos dazu sagen: Könnten Luftangriffe das Ziel einer verhandelten Lösung gefährden? Was für eine Auswirkung würde eine Luftkampagne auf Zivilopfer haben? Akzeptiert der Premierminister, dass die Bombardierung mehr davon hervorrufen könne, "was Präsident Obama als unbeabsichtigte Konsequenzen bezeichnet"?
Er möchte "einen Vorgeschmack von den spezifischen Dingen bringen, die wir tun wollen", gab sich Cameron in seiner Antwort großmütig. Es gäbe viele, "die die Rolle der Free Syrian Army herunterspielen", aber die mutmaßlichen 70.000 "moderaten Sunnis", die bereits im Feld wären, seien die Kraft am Boden, die man unterstützen werde.
"Wir werden keine britischen Bodentruppen einsetzen. Ihre Präsenz wäre kontraproduktiv, wir haben das aus früheren Fehlern gelernt", sagte Cameron, eigentlich eine erstaunliche Aussage angesichts der irakischen und afghanischen Heldentaten, die die Briten ihrer Armee üblicherweise zuschreiben.
Was das Potenzial gefährlicher Zwischenfälle mit Russland angehe, gäbe es wiederum eine klare Bewegung in Richtung einer "deconfliction". In an deren Worten: Cameron hofft, das Russland nicht gerade jene Leute bombardiert, die er als intakte Free Syrian Army wähnt, freilich nicht ohne hinzuzufügen, dass die Türkei "unser Verbündeter" sei.
Genau jene Türkei also, die nicht bloß russische Bomber abschießt, sondern auch die Kurden bekämpft, auf deren Hilfe er neben der erhofften Free Syrian Army setzt.
Aber irgendwie geht das schon alles zusammen.
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So ging's auch weiter, schaumgebremster als jede Kriegsdebatte, die ich in diesem Land je erlebt habe (und das waren seit 1997 so einige). Harmlos SNP, Greens und Libdems, da brauchte es schon ein paar alte Labour-Veteran_innen, um annähernd sowas wie leidenschaftlichen Widerspruch erkennen zu lassen.
"Er sieht nicht die Bedrohung, einen Weltkrieg zwischen Christen und Moslems herbeizuführen. Ist das nicht deren (Daesh, Anm.) Strategie?", meinte Paul Flynn. "Was für ein verrückter Krieg, Feinde zur Linken zur Rechten. Halten Sie sich raus!", sagte Dennis Skinner. Und "sehr enttäuscht" zeigte sich Emily Thornberry von Camerons "dünnem" Plan: "Diese Bodentruppen, von denen er spricht, scheinen am falschen Ort zu sein. Und es gibt Fragen darüber, ob sie überhaupt existieren. Die Russen bombardieren darüber hinaus gerade die moderaten Sunnis, wir werden auf dem Boden also vor einem Chaos stehen." (Anm: Britische Abgeordnete sprechen nie ihr Gegenüber direkt, sondern immer den Speaker an, daher die dritte Person.)
Einsame Stimmen. Und nur eine, Philippa Whitford von der SNP, machte den offensichtlichen Punkt, den die Satirezeitung Private Eye diese Woche mit ihrem Cover vorweg genommen hat (siehe unten): "Die Leute, die 2005 in London und jetzt in Paris gebombt haben, lebten hier. Die werden wir in Syrien nicht wegbomben können."
Robert Rotifer
Es dauerte gute zwei Stunden, bis Cameron zu seiner bisherigen Lieblingstheorie gelangte: Von der Stadt Rakka als "Kopf der Schlange" Daesh, den man offenbar abtrennen und damit das Biest töten könnte.
Den auf der Hand liegenden, ihm auch prompt entgegen gehaltenen Vergleich mit der mythischen Hydra, der bei Enthauptung sofort zwei neue Köpfe nachwachsen, verlachte er bloß als originelles, kleines Witzchen unter Gebildeten.
Die größte Chuzpe des Tages lieferte aber der Labour-Abgeordnete Keith Vaz mit seiner an sich luziden Bemerkung, dass Großbritanniens Bombardierungen die Migrationskrise wohl noch verschlimmern würden, gefolgt von der Frage: "Ist der Rest der EU darauf vorbereitet? Ich weiß, dass wir es sind, aber der Rest der EU?"
Wir sind es? Er muss den mehrfachen Zaun in Calais meinen, durch dessen innere und äußere Ringe ich neulich mit dem Eurostar gebraust bin, als hätten wir gerade ein Hochsicherheitsgefängnis verlassen.
Nach der heutige Debatte gab es übrigens keine Abstimmung. Sie war zum Meinungsaustausch gedacht. Cameron sagt, er wolle erst dann über Lufteinsätze in Syrien abstimmen, wenn er sich der Unterstützung des Unterhauses ganz sicher sein könne. Denn er wolle Daesh auf keinen Fall einen Propaganda-Coup bieten.
Als wäre Daesh auch nur im Geringsten an der parlamentarischen Legitimation einer westlichen Infidel-Regierung interessiert.
Nein, wer Cameron über die Jahre beobachtet hat, wird erkennen, dass sein unmittelbares Ziel wesentlich näher liegt. Der Ball liegt jetzt nämlich bei Jeremy Corbyns ohnehin schon von einer offenen Revolte der Parteirechten zerrissenen Labour Party.
Auch in dieser Hinsicht hat Private Eye wieder einmal den Nagel auf den Kopf getroffen:
Robert Rotifer
Solcherart Überlegungen sind es dann, die ein weiteres Land in diesen sich langsam entspinnenden neuen Weltkrieg ziehen. Aber sie glauben ja, sie haben es unter Kontrolle. Jedesmal wieder von Neuem.