Erstellt am: 2. 11. 2015 - 10:54 Uhr
Warum die türkische Opposition verloren hat
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Immer nur am Scheideweg
Die Türkei wählt mal wieder und wieder mal soll es um alles oder nichts gehen. Doch stimmt das und was bringt die Wahl wirklich?
Mehr als 23 Millionen Menschen haben gestern Ministerpräsident Ahmet Davutoglu und seine islamisch-konservative AKP gewählt - so viele wie noch nie zuvor. Die niedrigen Umfragewerte könnten der AKP zum Sieg verholfen haben.
Nach den letzten Parlamentswahlen im Juni waren die Koalitionsgespräche gescheitert. Gestern haben viele WählerInnen wohl auch aus Angst vor ungewissen Koalitionsverhandlungen und dem Wunsch nach mehr Stabilität die AKP wiedergewählt. Doch das ist nur eines der Gründe für den überraschend großen Wahlerfolg der Regierungspartei.
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Woher kommen die Stimmen?
Die AKP hat gestern 4,5 Millionen Stimmen dazu gewonnen. Nach ihrer Niederlage im Juni hat die Partei wieder ihre ganze Anhängerschaft mobilisieren können. Dazu hat sie Teile ihrer kurdischen, türkisch-nationalistischen und rechtskonservativen WählerInnen zurückgewinnen können.
Die nationalistische MHP hatte sich in den letzten Monaten extrem isoliert. Ihr Anführer Devlet Bahceli wurde als "Mr. No" zum Meme in der türkischen Twitteria. Die MHP hat im Vergleich zum Juni mehr als 4 Prozent eingebüßt. Ein Teil der frustrierten AKP-WählerInnen, die bei der letzten Wahl ihre Stempel bei der MHP gemacht hatten, sind wieder zurückgekehrt.
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Die pro-kurdische HDP ist jetzt vor der MHP die drittstärkste Kraft im Parlament, aber sie hat in all ihren Hochburgen im Südosten Stimmen an die AKP verloren. In reinen Zahlen sind die Verluste nicht sehr groß, aber sie könnten weitgehende Auswirkungen haben.
Für die AKP bedeutet das Ergebnis, dass der Kampf gegen die PKK zumindest von Teilen der kurdischen Bevölkerung unterstützt oder geduldet wird. Im Juni hatte die HDP im Südosten die AKP haushoch geschlagen.
Eine politisch starke HDP sollte der Schlüssel zu einem erfolgreichen Friedensprozess sein. Allerdings hat kurz nach der Wahl im Juni die PKK unerwartet die Waffenruhe aufgehoben. In dem eskalierenden Konflikt mit dem Staat sind hunderte Menschen gestorben. Die steigende Gewalt und die Instabilität im Südosten hat der HDP zwar wenige, aber dafür umso wertvolle Stimmen gekostet. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Situation auf die Wiederaufnahme des Friedensprozesses auswirkt.
Die PKK könnte die politisch geschwächte HDP noch mehr unter Druck setzen und den bewaffneten Aufstand als einzig effektive Methode im Kampf um mehr Selbstbestimmungsrechte präsentieren. Andererseits könnte die HDP auch die PKK für den Stimmenverlust verantwortlich machen und auf politischer Ebene den Dialog mit der AKP suchen, um die "Kurdenfrage" friedlich zu lösen, aber diese Option scheint bei den verhärteten Fronten unwahrscheinlich.
Letztendlich wird der Türkei-PKK-Konflikt nicht nur von internen Faktoren, sondern auch vom Bürgerkrieg in Syrien und der Situation im nordirakischen Kurdistan, beeinflusst. Eine schnelle Lösung wird es wohl nicht so bald geben.
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Wieso sind die Oppositionsparteien so schwach?
In den staatlichen Sendern hatten die Oppositionsparteien wie immer wenig Sendezeit und in den letzten Monaten ist der Druck auf oppositionelle Medien enorm gewachsen. Außerdem war die HDP aus Angst vor Terroranschlägen gezwungen, einen minimalen Wahlkampf ohne große Versammlungen zu führen. Doch mit diesen Fakten allein lässt sich nicht erklären, wieso die Oppositionsparteien bei jeder Wahl beinahe exakt gleiche Ergebnisse reproduzieren.
Obwohl die AKP seit über einem Jahrzehnt jede Wahl klar für sich entscheidet, schaffen es die Oppositionskräfte nicht, gemeinsam gegen die Regierungspartei anzutreten. Die oft beklagte gesellschaftliche Polarisierung existiert nicht nur zwischen Erdogan-AnhängerInnen und GegnerInnen, sondern auch innerhalb der Opposition.
Noch immer hat die kemalistisch-nationalistische CHP spürbare Berührungsängste mit der kurdischen Bevölkerung. Für die nationalistische MHP gilt die kurdische HDP ohnehin als "unberührbar". Nur eine Allianz dieser drei Parteien könnte eine ernste Bedrohung für die Regierungspartei darstellen.
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Die AKP-Basis hingegen ist nicht so homogen, wie oft angenommen wird. Das haben die letzten Wahlen bewiesen, als die AKP nach einem wenig überzeugenden und arroganten Wahlkampf, an alle Parteien Stimmen verloren hat. Die AKP selbst ist im Grunde eine Koalition, die konservative, kurdische, nationalistische und sogar einige liberale Kräfte quer durch alle Schichten und Regionen hindurch unter einem Schirm vereint. Das spiegelt sich in den Ergebnissen wider: während CHP, MHP und HDP in vielen der 81 türkischen Provinzen nur auf dem Papier existieren, liegt die AKP in 62 Provinzen auf dem ersten Platz. Nur in drei Provinzen erreicht sie weniger als 20 Prozent.
Die türkischen Oppositionsparteien konzentrieren sich im Wahlkampf stets voll und ganz auf AKP-Gründer und Präsident Recep Tayyip Erdogan. Mit Erdogan-Kritik können die Oppositionsparteien ohne großen Aufwand Stimmen sammeln und große Niederlagen verhindern, aber nicht die jahrelange Stagnation überwinden. Die Opposition muss in Zukunft im Wahlkampf mehr riskieren, um das Interesse der AKP-Wählerschaft zu erwecken.
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Die Gewalt, die Polarisierung, der willkürlich agierende Rechtsstaat, die Einschränkung der Pressefreiheit, die politische Macht des Militärs, das reformdürftige Bildungssystem, die Lage der Minderheiten, die Korruption und unkontrollierte Urbanisierung sind strukturelle Probleme der Türkei, die so alt sind, wie das Land selbst und auch die AKP-AnhängerInnen spüren diese Probleme in ihrem Alltag.
Sie wählen gerade deswegen die Regierungspartei, weil sie sich erhoffen, dass die AKP diese Probleme löst und das Land reformiert. Deshalb verliert die AKP Rückhalt, wann immer sie von ihrem versprochenen Reformkurs abkommt, wie vor den Wahlen im Juni.
Solange die Oppositionsparteien keine glaubhafteren und besseren Lösungen für diese fundamentalen Missstände anbieten und nicht über die Differenzen innerhalb ihrer eigenen Reihen reflektieren und diese überwinden, werden sie keine Siege feiern können. Dabei wären die bitter nötig, nicht nur für die Lebensläufe der erfolgshungrigen OppositionspolitikerInnen, sondern für das ganze Land.