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Ali Cem Deniz

Das Alltagsmikroskop

30. 10. 2015 - 16:35

Immer nur am Scheideweg

Die Türkei wählt mal wieder und wieder mal soll es um alles oder nichts gehen. Doch stimmt das und was bringt die Wahl wirklich?

Nach der Wahl

Warum die türkische Opposition verloren hat
Die AKP sitzt nach einem Erdrutschsieg wieder alleine in der Regierung. Die Oppositionsparteien erleiden Verluste. Kann das irgendjemand noch erklären?

Die Parlamentswahl am Sonntag wird in internationalen und türkischen Medien, wie jede Wahl in der Türkei, zum allesbestimmenden Entscheidungsmoment für die Zukunft des Landes stilisiert. Nach den letzten Wahlen im Juni, hatten die Parteien es nicht geschafft eine Regierung zu bilden, deshalb wird ohne Zweifel das Ergebnis von großer Bedeutung sein, und die Beteiligung wird auch dieses Mal sehr hoch sein. Doch am Tag nach der Wahl wird die Türkei vermutlich weder untergehen noch mit einem Sprung eine makellose Demokratie. Die Realität ist etwas komplexer. Zeit für einen Überblick:

Die Parteien

Im Juni hatte die pro-kurdische HDP mit einem historischen Erfolg die 10 Prozent Hürde überwunden und damit die AKP nach über einem Jahrzehnt daran gehindert eine Alleinregierung zu bilden. Für Sonntag rechnen Umfrageinstitute mit ähnlichen Ergebnissen. In dieser Situation ist deshalb für die Parteien jede Stimme immens wertvoll.

Selahattin Demirtas von der HDP

APA/EPA/DENIZ TOPRAK

Die pro-kurdische HDP will wieder ins Parlament einziehen.

Die AKP will im Südosten die vielen an die HDP verlorenen kurdischen Stimmen zurückgewinnen. Das Niveau von 2011 wird sie sicher nicht erreichen, aber schon einen kleinen Anstieg bei den kurdischen WählerInnen, könnte die Regierung als Befürwortung ihrer aktuellen Kurdenpolitik interpretieren. Bei der letzten Wahl hatte die Regierungspartei in Diyarbakir nur einen Abgeordneten bekommen (2011 waren es 6).

Falls die AKP jetzt auch diesen Abgeordneten verliert, könnte die HDP mehr Druck auf die Regierung ausüben und eine starke Position für eine mögliche Wiederaufnahme des Friedensprozesses einnehmen.

Allerdings haben seit den letzten Wahlen beide Parteien einen Imageschaden erlitten. Während viele KurdInnen die AKP für die Eskalation der letzten Monate verantwortlich machen, kritisieren sie auch den Einfluss der PKK-Hardliner auf die HDP. Aber gerade aus diesem Grund halten viele KurdInnen zur HDP. Für sie ist eine starke politische Vertretung im Parlament der Schlüssel zur friedlichen Lösung des Konflikts. Die Beteiligung im Südosten wird für den Ausgang der Wahl besonders wichtig sein.

Turkey

APA/AFP/ADEM ALTAN

Ministerpräsident Ahmet Davutoglu (AKP) mit Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu (CHP). Nach den Wahlen werden sie vermutlich eine Koalition aushandeln.

Die kemalistische CHP wird wohl zweitstärkste Kraft bleiben und könnte auch an Stimmen zulegen. Bei den letzten Wahlen hatte sie Stimmen an die HDP verloren, weil auch viele TürkInnen eine AKP-Alleinregierung und die Einführung eines Präsidialsystems verhindern wollten. Jetzt wo der Einzug der HDP als sicher gilt, könnten diese WählerInnen zur CHP zurückkehren.

Allein die ultranationalistische MHP kämpft mit sinkenden Umfragewerten. Sie hatte sich in den letzten Monaten von allen Parteien isoliert, um sich als einzige Option für eine "stabile und starke " Türkei zu präsentieren. Diese Passivität kommt bei den hochpolitisierten WählerInnen nicht gut an.

Die Medien

Die Schlachten der Politik werden in den türkischen Medien noch unbarmherziger und brutaler ausgetragen. Die vielen KolumnistInnen bekämpfen sich mit ihren Artikeln jeden Tag. JournalistInnen müssen sich aber auch zunehmend vor physischer Gewalt fürchten. Vor wenigen Wochen wurde der berühmte Oppositionsjournalist Ahmet Hakan in einer organisierten Attacke brutal verprügelt. Im Juli gab es einen versuchten Bombenanschlag auf eine regierungsnahe Zeitung.

In solchen Fällen schaffen es die meisten türkischen JournalistInnen nicht, unabhängig von ihren Einstellungen, miteinander solidarisch zu sein und gemeinsam für mehr Medien- und Pressefreiheit einzutreten.
Die Zeitungen verhalten sich mehr wie politische Akteure und dass sie in den zunehmend gewalttätigen politischen Kampf hineingezogen werden, erscheint mittlerweile „normal“.

Turkey Media Riots

APA/AFP/MEHMET ALI POYRAZ

Besonders bitter fällt der Kampf zwischen den regierungsnahen Medien und den Medien der Gülen-Bewegung aus. In dieser Woche stürmte die Polizei die Redaktionsräume der Zeitungen Bugün, Millet und des TV-Senders Kanaltürk. Sie alle stehen der Gülen-Bewegung nahe. Offiziell soll es um Wirtschaftskriminalität gehen. Doch für viele ist es eine persönliche Abrechnung zwischen AKP und der Gülen-Bewegung.
Der einflussreiche Prediger Fettulah Gülen war 1999 in die USA ausgewandert. Ihm nahestehende Medien und JournalistInnen hatten die AKP lange unterstützt, mittlerweile ist Gülen auf der türkischen Liste der meistgesuchten Terroristen gelandet. Die Regierung wirft der Bewegung vor, einen Parallelstaat aufgebaut zu haben.

Diese generelle Krise der Medien hat auch positive Effekte: immer mehr JournalistInnen versuchen unabhängig von den mächtigen (sowohl regierungsnahen auch als oppositionellen) Mainstreammedien zu berichten. Mithilfe der sozialen Medien und neuen Streaming-Apps wie Periscope klappt das auch. Das könnte in Zukunft die Qualität der Medien wieder steigern und sich positiv auf das politische Klima äußern.

Der Friedensprozess

Der Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der PKK ist erneut eskaliert und seit Juni gab es hunderte Tote. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig. Der Friedensprozess war nie ganz frei von gewalttätigen Konflikten und die PKK hatte auch vor den letzten Wahlen mehrmals den Friedensprozess für gescheitert erklärt. Mit der Syrien-Krise und der Haltung der Regierung während der Besatzung von Kobane ist die Situation jetzt gekippt. Die türkischen KurdInnen hatten sich mehr Unterstützung von der türkischen Regierung erwartet. Bei Protesten starben dutzende Menschen.

Dabei hatten viele gehofft, dass ein politischer Erfolg der HDP die Lösung der „Kurdenfrage“ endgültig auf eine politische Ebene tragen kann. Nur wenige Tage nach der Wahl hatte die PKK die HDP aber wegen ihrer „Passivität“ kritisiert und einen revolutionären Volkskampf ausgerufen. Damit war die Waffenruhe offiziell zu Ende.

Die Reaktion der Türkei war unerwartet hart und die Kämpfe haben inzwischen hunderten Soldaten, Polizisten, PKK-Kämpfern und Zivilisten das Leben gekostet.

So plötzlich wie der Konflikt neu entflammt ist, wird er zwar nicht aufhören, die Zeichen für einen neuen Friedensprozesses stehen trotzdem nicht schlecht.
Die kemalistische CHP, die bis jetzt nur harte Kritik und Spott für den Prozess übrig hatte, will sich jetzt als neuer Verhandlungspartner positionieren. Das hat natürlich politisch-taktische Gründe. Jetzt wo die AKP sich einer nationalistischen Rhetorik bedient, will sich die größte Oppositionspartei den KurdInnen öffnen. Wenn sie bei dieser Haltung bleibt, könnte ein neuer Friedensprozess noch mehr Unterstützung aus der Bevölkerung bekommen.

Das Ergebnis

Das derzeitige Chaos und die steigende Gewalt hätten sich nach den letzten Wahlen selbst große PessimistInnen nicht ausdenken können. Trotz oder gerade deswegen ist die Chance auf eine Regierungsbildung jetzt größer.

Dieses Mal will keine der drei Parteien eine Koalition mit der AKP ausschließen. Für die AKP heißt das primäre Ziel wieder Alleinregierung, aber auch sie lässt die Tür für eine Koalition offen. Eine weitere Neuwahl dürfte es nicht geben. Am Montag haben wir das definitive Ergebnis und schauen uns dann an, wie es weitergeht.