Erstellt am: 31. 10. 2015 - 15:24 Uhr
Desperate Gemeinschafts-Housewifes
Aus dem Leben der Lo-Fi Boheme
Geschichten aus der deutschen Hauptstadt von Christiane Rösinger
Das Klischee sagt: Diese Mütter hocken in Kleingruppen den ganzen Tag mit ihren verzogenen Kindern im Café, bestellen einen Latte Macchiato nach dem anderen, klagen über ihr stressiges Leben, ihre unkooperativen Männer und unsere kinderfeindliche Gesellschaft und sehen es gleichzeitig als Großtat an sich, fortgepflanzt zu haben und sich hinterher sogar um die eigene Brut zu kümmern. Wie so oft trifft das Klischee ja auch zu und so kann man diese Müttergruppen tatsächlich verstärkt im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg beobachten, wo sie ohne Rücksicht auf Verluste mit ihren 1.000 Euro Kinderwägen die Bürgersteige durchpflügen, was dem einstigen Arbeiter- und Szenebezirk Prenzlauer Berg den Spitznamen "Pregnant Hill" eingebracht hat. Der Bezirk, wo das Bionade-Biedermeier blüht und die bürgerliche Linke auf den Straßen "Ho-Ho-Holzspielzeug" skandiert.
Und zu Recht macht man sich über sie lustig, in Büchern mit dem Titel "Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter" und in den lebensnahen Youtube- Clips aus der Reihe "Die Prenzlschwäbin".
Auch Anke Stellings Roman "Bodentiefe Fenster" beschreibt dieses spezielle linksbürgerliche Milieu - allerdings nicht mit dem hämischen Blick von Außen, sondern mit dem analysierenden, bitterbösen Blick von Innen. Die Protagonistin des Romans ist Sandra, eine verheiratete Mutter von zwei Kindern. Sie wohnt in einem Mehrgenerationen-Wohnprojekt, das ihre "Baugruppe" selbst errichtet hat, mit bodentiefen Fenstern, durch die alle rein sehen können, und mit dünnen, selbst hochgezogenen Wänden.
Da leben sie also, die überprivilegierten, überbesorgten und überforderten Mütter und - man gönnt es ihnen - es ist schrecklich. Die ständigen Diskussionen und Verabredungen mit den Anderen, die endlosen Plena, die soziale Kontrolle, der ewige Wettbewerb und das ständige Vergleichen, wer nun die bessere Mutter ist, die bessere Ehe führt, die kreativeren Kinder hat.
Diese Mütter sind Hausbesitzerinnen und finanziell abgesichert, freiberuflich tätig, von Existenzangst befreit - und stehen trotzdem kurz vor dem Burnout. Sie sind im Buch detailgetreu gezeichnet - trifft man sie im wahren Leben und deutet man im Gespräch an, dass sie nicht die Ersten sind, die Kinder großziehen, dass es zum Beispiel in Westdeutschland in den Achtzigern nur 50 Mark Kindergeld gab und Kindergartenbetreuung nur für Kinder ab drei und das auch Alleinerziehende das gemeistert haben - dann schauen sie ungläubig, als erzähle man ihnen von Trümmerfrau-Zeiten nach dem Krieg.
Verbrecher Verlag
Hauptfigur Sandra aus "Bodentiefe Fenster" denkt viel an ihre Kindheit, an die Zeit im Kinderladen, an die tollen Kindergeburtstage. Erzogen von der 68er-Generation haben Sandra und ihre Altersgenossinnen linksliberale und bürgerliche Werte verinnerlicht und den Glauben, dass man über alles diskutieren soll und kann und das Leben aber trotzdem wie in Bullerbü oder in der Villa Kunterbunt aussehen kann.
Aber die Utopien gehen im Alltag verloren, treffen auf Paradoxien und Lebenslügen. Sandras Leben ist langweilig, aufreibend und ermüdend zugleich, die anderen Mütter gehen ihr auf die Nerven, das Leben im Gemeinschaftshaus ist die Hölle.
Das alles ist zwischendurch sehr vergnüglich zu lesen, wenn zum Beispiel der leiernde Tonfall nachgeahmt wird, mit dem aufgeklärte Mütter Eineinhalbjährigen erklären, dass zu viele Mandarinenschnitze einen wunden Popo machen, statt dem Kind die Dinger einfach aus der Hand zu nehmen. Sandra macht sich Sorgen - um ihre Kinder, dass ihnen etwas zustoßen könnte, um Freundinnen, die sie noch aus Kinderladenzeiten kennt. Isa, zum Beispiel, ist eine selbstbewusste Frau, die sich aus unerfindlichen Gründen nicht von ihrem Mann trennen kann, der von ihr noch Essensgeld für die drei Monate verlangt, in denen sie nach der Geburt des zweiten Kindes nicht arbeiten konnte.
Sandras Schwester Wiebke kann sich nicht einmal in einer Diskussion über die Zweckmäßigkeit von Socken im Winter gegen eine Zweijährige durchsetzen. Irgendwann dann aber, etwa in der Hälfte des 240 Seiten dicken Romans, kommt Langeweile auf, ob der ewigen Rückblenden in die Kindheit und den Luxusproblemen der Gemeinschaftshausbesitzer. Gleichzeitig wird Sandra im Laufe des Buches immer depressiver, steigert sich in morbide Gedankenspiele und verzweifelt gleichzeitig an den kleinsten Herausforderungen der Kinderbetreuung.
Dass sie mit ihrem dreijährigen Sohn Ritterburg spielen muss, obwohl sie erschöpft ist und keine Lust dazu hat, ist eine Katastrophe. Dass sie die Kälte hasst und doch "aus pädagogischen Gründen" mit ihren Kindern Schlitten fahren muss, bringt sie schier zum Wahnsinn. Interessant wird es erst wieder, wenn die Leserin nicht mehr weiß, was jetzt Romanhandlung oder Wahnvorstellung ist. Hat Wiebke wirklich ein Münchhausen-by-proxy-Syndrom und ihre Kinder mit einem Medikamentencocktail vergiftet? Ist Manuela wirklich in der Badewanne ertrunken?
Gegen Ende kommt der böse Humor ein wenig zu kurz, auch ein wenig Selbstironie angesichts der "Probleme, die andere gerne hätten" wären der Heldin des Romans gut zu Gesicht gestanden. Andererseits: Als "Desperate Gemeinschafts-Housewife" vom Prenzlauer Berg auch noch selbstironisch sein, das wäre dann doch zuviel verlangt.