Erstellt am: 29. 10. 2015 - 16:30 Uhr
Ökonomie, Sex, Erinnerung
Viennale auf FM4
Das Vienna International Film Festival vom 22. Oktober bis zum 5. November.
Alle Ausgaben des Viennale-Tagebuchs von Lukas Tagwerker
Bernard Maris sagt Sätze!
Der Ökonom wurde am 7. Januar dieses Jahres in der Redaktion von Charlie Hebdo in Paris mit einer Kugel ermordet.
Der kanadische Filmer Richard Brouillete hatte Maris Jahre zuvor für seinen Film L'encerclement (←hier ganz zu sehen) interviewt.
Aus dem Material hat er für Bernard Maris nun ein Film-Monument gebaut: Oncle Bernard - A Counter-Lesson in Economics.
Ich schlüpfe nach dem Film beim Gartenbauseitenausgang heraus um gleich wieder hineinzuschlüpfen: ich bekomme Platz 18 in der Restkartenwarteschlange für The Lobster.
Ging sich nicht mehr aus.
Hat das irgendjemand gesehen?
Ein Kollege, der sich von dem Film etwas erhofft hatte, zeigt sich danach enttäuscht und wortkarg: "pubertär".
Dass das Thema der vergeblichen Balz in Tinder-Grinder-Zeiten zieht, ist naheliegend. Dass der Lobster-Trailer in zwei Minuten die ganze story ökonomischer erzählt, als der Film in 118 Minuten, ist meine Vermutung.
Viennale
Ilias Petropoulos – Enas Kosmos Ypogeios
Ein charmanter Politikwissenschafter spaziert mit mir vom Gartenbau zum Künstlerhauskino und wir lernen beim Ankick des Viennale Specials Griechenland - Noch Einmal Mit Gefühl den Exil-Dichter und "urbanen Anthropologen" Elias Petropoulos kennen.
Petropoulos hat sich in seinem rebellischen Werk mit Marginalien befasst, die gar nicht marginal sind: die Geheimsprachen der Unterwelt, die Volksmusik Rebetiko oder die griechische National-Uniform, die nach Petropoulos' Forschungen aus Albanien geklaut ist.
Der Film spürt dem Trachten und Wirken des Dichters in prezise montierten Bildern nach. Kalliopi Legaki findet dabei magische Rythmik.
Des Dichters Witwe schüttet dessen Asche am Ende wie vom Ehemann erbeten in einen Gulli in Paris.
Dann zerschlägt sie vor Trauer das Glas, aus dem sie die Asche schüttete.
Viennale
Janis: Little Blue Girl
Eine diametrale Herangehensweise ans Künstlerportrait wählt Amy J. Berg für ihren Janis-Joplin-Film.
Zwar werden auch hier vergessene Archiv-Aufnahmen, Zooms in Joplins handschriftliche Briefe und Zeitzeugen-Interviews aufgetischt, die krampfhafte Suche nach der "Wahrheit" über Joplin hat jedoch etwas Peinliches: der X-Faktor ihrer Einzigartigkeit soll darin liegen, dass sie als Schülerin gemobbt worden ist?
Janis: Little Blue Girl lässt sich kaum auf das Werk der Künstlerin ein, nicht auf 1968, nicht auf Joplins Wirkung.
Stattdessen gibt es ein Psychogramm, wie 1:1 von der CIA kopiert, mit ein bisschen prä-MTV Kameragewackel. Nett zum Anschaun, aber das Gegenteil einer Würdigung.
Viennale
Trois Souvenirs De Ma Jeunesse
Mein bisheriges Hochlicht der Viennale 2015!
Arnaud Deplechins hat ein Prequel zu seinem ... ma vie sexuelle von 1996 gemacht.
Die Vorgeschichte einer Geschichte, die ich damals verpasst habe und auf deren Nachholen ich jetzt schon Vorfreude empfinde.
Der Anthropologe Paul kehrt heim nach Paris.
Und wird von Seiten des Außenministeriums gebeten eine Sache aufzuklären: seine Identität.
Er erzählt dem greisen Beamten beim freundlichen Verhör aus seiner Kindheit, vom Selbstmord seiner Mutter, vom Aufwachsen bei einer Tante und deren russischer Geliebten, von jugendlichen Heldentaten, die lange Kettenreaktionsschatten werfen und erst jetzt sein Zu-Sich-Kommen verkomplizieren.
Da kommt einiges hoch: seine Jugendliebe.
Im Kramen nach Erinnerungen hält Paul sich an ihr fest, die er damals regelmäßig von sich gestoßen hat, als er die Fernbeziehungs-Pendlerei zwischen Paris und Roubaix (dem realen Geburtsort des Autors Desplechin) emotional und ökonomisch - als Student - nicht mehr durchhielt.
Die krachenden Identitätskonstrukte mahnen mit Rimbaud: ich ist ein anderer.
Why Not Productions
Die SchauspielerInnen-Truppe, allen voran der atemberaubendste Quentin Dolmaire, spielen perfekt temperiert zusammen.
Frankreich erhofft sich viel von ihnen, liest man.
(Trailer.)