Erstellt am: 6. 9. 2015 - 20:35 Uhr
"Wie Hilfe auszusehen hat"
Aktueller Bedarf am Hauptbahnhof
Bewegung, aber keinerlei Hektik bestimmt das Treiben am Hinterausgang von Bahnsteig 9 und 10. Abseits von Shopping-Mall und Food-Court im Bahnhofsgebäude steht der "Train of Hope" als eine Art Zweit-Ankunftshalle bereit. Normalerweise betreibt die Stadt Wien hier eine Fahrradwerkstätte. Seit kurzem ist alles umfunktioniert: Die 100 Quadratmeter große Werkstätte wurde zum Lagerraum, nebenan sitzt das Organisationsteam an Biertischen und koordiniert Mediziner, Kinderbetreuung, Kleidungsausgabe und Spendensammlung. Und natürlich die Online-Kommunikation, mitunter das wichtigste Werkzeug für den Train of Hope: Kaum je müssen die Freiwilligen länger als eine halbe Stunde warten, bis ein dringend benötigtes Gut von hilfsbereiten Privatpersonen vorbeigebracht wird - vom Gaffa-Tape bis zum Plastikbecher.
Drehscheibe
Man betrachte sich als Drehscheibe für Hilfe und Kommunikation, so wie der Hauptbahnhof einen wichtigen Knotenpunkt für Zugsreisende darstellt; erklärt J., der heute die Gesamtkoordination verantwortet. Sind etwa die Lagerräume voll, können überzählige Spenden an die Aufnahmepunkte in Nickelsdorf oder an den Westbahnhof verbracht werden. Außerdem organisiert der Train of Hope Fahrtendienste ("Familie wartet an Tankstelle Nähe Nickelsdorf"), Personensuchen und internationale Kontakte für die Weiterreise, wie sich am geschäftigen Treiben auf twitter.com/HBF_Vie ablesen lässt.
Wie ein Filmset
Mittlerweile wurden Funkgeräte gespendet, das Team ist somit ständig im Austausch. Kommt ein Zug an, können Helfer vom Bahnsteig aus durchgeben, welche Kleidung benötigt wird, andere bringen die Textilien dann aus den Lagerräumen und die Stiegen hinauf, erklärt A. vom Kleidungslager. Ebenso läuft bei Bedarf die Koordination von Dolmetsch- und Rechtshilfe ab.
Gerade ist H. aus dem Zug und die Stiegen herunter gekommen. Der 32-jährige Einzelhändler kommt aus dem irakisch-kurdischen Mossul und ist am Weg zu seiner Frau in Deutschland. H. trägt kurze Hosen und schlottert vor Kälte. Er freut sich auf das warme Buffet - zuvor sucht er sich aus den Kleiderbergen eine wettertaugliche Hose.
A. steht ein wenig abseits des Trubels und befestigt eines der Outdoor-Zelte windsicher. Darin stapeln sich Pullis, Hosen, T-Shirts und unzählige Schuhe. Wie er zu diesem Job gekommen sei? A. antwortet amüsiert-pragmatisch: "Ich bin in der Früh hergekommen, habe Medikamente abgegeben und (...) sortiert. Irgendwann kam einer und fragte, 'Wie heißt Du?' - A. - 'A., hast du da den Überblick?' - Möglicherweise? - 'Dann bist jetzt du der Koordinator'."
Train of Hope
Pickerl, Stift, fertig
Wer mitmachen möchte, meldet sich im Organisationsteam und bekommt - so aktuell Bedarf an Zeitspenden besteht - ein Namenspickerl und eine Aufgabe zugewiesen. Die Zusammenarbeit mit den ÖBB funktioniert gut, sagt J.: "Die Zusammenarbeit und Kommunikation mit den ÖBB ist großartig. Wir werden unterstützt. Die Räumlichkeiten stellen ÖBB und Stadt Wien zur Verfügung. Der Bahnhofsleiter setzt sich sehr für uns ein und ist mittlerweile mit dem gesamten Team per Du und sehr freundschaftlich und kollegial." Später haben die Bundesbahnen mobile WC-Anlagen für die zahlreichen Refugees und Freiwillige aufgestellt, Bäckereien haben mehr als hundert Brote gebracht und Privatpersonen Erste-Hilfe-Kits, Ladegeräte und Decken.
Professionalisierung
Die Hilfe hier kommt fast ausschließlich von Privatpersonen, die sich im Schwarmverfahren organisieren - die Caritas unterstützt und kümmert sich etwa um die Schlafgelegenheiten - wie ein "Spiegelbild" zum Westbahnhof, wo NGOs die Hilfe organisieren und viele Private zur Unterstützung vor Ort sind.
Regierung
Obwohl die Freiwilligen hier stolz sind, ihre Kapazitäten mitten aus der Gesellschaft zu beziehen, will man sich ehebaldigst auch formell professionalisieren: Homepage und juristische Person als Verein bzw. NGO sind in Planung - um die Verantwortung und auch etwaige Haftungen konkreter zu bündeln. Mit ihrer unbürokratischen Soforthilfe wollen die Freiwilligen vom Hauptbahnhof auch eine politische Botschaft platziert wissen: "Was wir versuchen, ist, im Gegensatz zur Regierung, die seit Wochen und Monaten gemeinsam mit ORS in Traiskirchen absolut versagt, zu zeigen, was Privatpersonen innerhalb weniger Tage aufstellen können. Wie Hilfe in so einer Situation eigentlich auszusehen hat ".
Siehe auch: Was tut sich? Was kannst du tun?