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Thomas Abeltshauser

Filmjournalist. Berichtet von Filmfestspielen, unter anderem Cannes oder Venedig.

3. 9. 2015 - 18:33

Gipfelstürmer und Psychopathen

In Venedig ist das älteste Filmfestival der Welt eröffnet. Nach dem 3D-Bergsteigerspektakel "Everest" dominieren in den ersten Tagen Kriegstreiber und Kinderschänder. Und fürs Wochenende steht großer Starrummel an.

Von Thomas Abeltshauser

Auf dem Weg zum ältesten Filmfest der Welt muss man erst einmal durch den Flughafen in Venedig, der nach Marco Polo benannt ist und wirklich einigen Entdeckergeists bedarf. Eine riesige Baustelle versperrt den üblichen Weg vom Terminal zur Anlegestelle für die Vaporetti, die Linienboote, die das Festland mit dem vorgelagerten Lido verbinden. Ein Wust aus Schleichwegen, Zäunen und Sackgassen lässt das Gelände fast wie das Set aus einem apokalyptischen Remake des Venedig-Thrillers "Wenn die Gondeln Trauer tragen" erscheinen. Zum Glück sehe ich keine Zwergin in rotem Regenmantel und finde am Ende doch noch meinen Weg zur Einstiegsstelle, um auf die Insel überzusetzen, wo am Mittwoch die 72. Mostra del Cinema di Venezia begonnen hat.

Everest

Universal Pictures

Everest

Der Eröffnungsfilm war gleich ein Paukenschlag. "Everest" erzählt in grandiosen 3D-Bildern von der tragischen Besteigung des Mount Everest im Jahr 1996, bei der zwei Expeditionen von einem Unwetter überrascht wurden und acht Menschen ums Leben kamen. Der isländische Regisseur Baltasar Kormukár stellt dabei die von ein paar erfahrenen Bergführern geleiteten Hobbygipfelstürmer, fast allesamt Männer und in Selbstüberschätzung ihr Leben riskierend, den im Camp oder zuhause auf sie wartenden Frauen entgegen. Nie wird ihr Tun in Frage gestellt, auch als die ersten Todesopfer zu beklagen sind. Die Erzwingung des höchsten Bergs der Welt ist ein Ziel jenseits aller Zweifel. Kormukár inszeniert das als spektakulären und starbesetzten Thriller mit 3D-Aufnahmen, bei denen einem selbst im Kinosaal schwindelig wird.

"Je mehr man sich auf die Wirklichkeit da draußen bezieht, desto wahrhaftiger wird der Film auch", sagt Kormukár und meint damit vor allem die Entscheidung, einen Großteil des Films in echtem Gebirge zu drehen und Computereffekte sparsam einzusetzen. So ganz echt war es dann freilich nicht, etliche Szenen wurden am Fuße des Mount Everest gedreht, aber auf dem höchsten Berg der Welt war die Luft für die Hollywoodstars zu dünn und so kletterten sie dann in den Dolomiten an der österreichisch-italienischen Grenze. Jake Gyllenhaal betont die große Verantwortung, die es bedeute, eine reale Person zu spielen. Er traf sich im Vorfeld mit den Kindern des verstorbenen Bergsteigers, um sie zu überzeugen, dass er ihrem Vater in seiner Darstellung gerecht wird.

Für Festivalleiter Alberto Barbera zieht sich der Realitätsbezug der Filme dieses Jahrgangs wie ein roter Faden durch das Festivalprogramm. Weltweit würden sich Filmemacher mit realen Ereignissen auseinandersetzen. Das sei aber kein Mangel an Kreativität oder Einfällen. "Ich glaube, Regisseure verspüren das Bedürfnis, über eine Welt nachzudenken, in der wir alle das Gefühl haben, die Kontrolle verloren zu haben." Jurypräsident Alfonso Cuaron, der vor zwei Jahren mit dem 3D-Weltraumspektakel "Gravity" das Festival eröffnet hatte, will sich ganz offen auf die 21 Wettbewerbsbeiträge einlassen. "Es wäre eine ungesunde Herangehensweise, wenn man da mit festen Vorstellungen herangeht." Er wolle auf die Vielfalt der Ideen, Ausdrucksformen und Facetten des Kinos achten.

Beasts of No Nation

Netflix

Beasts of No Nation

Was sich nach den ersten beiden Tagen gerade deutlicher als Thema manifestiert, sind eher maskuline Strukturen und ihre Vertreter, die mal neurotisch, mal absolut psychopathisch, aber immer ohne Rücksicht auf Verluste ihr Ding durchziehen. In Cary Fukunagas "Beasts of No Nation" steht ein wahnsinniger Warlord im Mittelpunkt, der in einem namenlosen afrikanischen Staat einen Trupp Kindersoldaten durch den Bürgerkrieg peitscht. Erzählt wird der Film aus der Perspektive eines Jungen, der nach der Ermordung seiner Familie in die Hände des Commandante (Idis Elbra) gerät, der den Jungen als Teil seiner pseudofamiliären Kameradschaft unter seine Fittiche nimmt und durch eine harte Schule gehen lässt. Fukunaga zeigt die brutale Gewalt ebenso wie die aufpeitschende Rhetorik, mit der die Kinder zu willigen Kampfmaschinen gedrillt werden. Dagegen wirkt der Kontrast zur Schönheit der Natur, die er als sein eigener Kameramann festhält, fast vulgär.

Spotlight

Kerry Hayes

Spotlight

"Spotlight", das andere US-Highlight bisher, ist ein Drama über die pädophilen Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche in Amerika, die ein Team der Tageszeitung Boston Globe ab 2001 aufdeckte. Michael Keaton ist darin als Chef der Investigativabteilung in seiner ersten Hauptrolle nach seinem sensationellen Comeback letztes Jahr mit "Birdman" zu sehen, der auch in Venedig seine Weltpremiere hatte. Ein klassisches und exzellent gespieltes Journalismusdrama, in dem die oft gescholtene Presse noch einmal als Heldin auftreten darf, in dem sie die Machenschaften und Vertuschungsversuche der Kirche und ihrer Helfershelfer publik macht.

Das kommende Wochenende hat es in sich. Ich freue mich Freitagmorgen auf den Gangsterthriller "Black Mass" mit Johnny Depp als irisch-stämmigem Mobster, der sich in den Achtziger Jahren mit dem FBI einlässt, um damit den Vormarsch der italienischen Mafia in Boston zu stoppen. Als heißer Oscarkandidat gilt der Brite Eddie Redmayne in "The Danish Girl", dem neuen Film von "The King’s Speech"-Regisseur Tom Hooper. Redmayne spielt einen dänischen Maler, der sich in den 1920er Jahren als einer der ersten einer geschlechtsangleichenden Operation unterzog. Kristen Stewart präsentiert den Science Fiction Film "The Equals" und Amy Berg das Filmporträt "Janis" über die jung verstorbene Bluesrocksängerin Janis Joplin. Ob Shia LaBeouf nach den jüngsten Ausrastern bei Dreharbeiten sein Kriegsdrama "Man Down" persönlich vorstellt, ist dagegen eher fraglich. Und dann gibt es auch noch einen österreichischen Beitrag. Andreas Horvaths Filmporträt über Helmut Berger. Ich hoffe sehr, dass er auch selbst nach Venedig kommt und den Roten Teppich ein bisschen aufmischt.

Außerdem wird der letzten Sonntag verstorbene Horrorregisseur Wes Craven mit einer Sondervorstellung seines Klassikers "Nightmare on Elm Street" geehrt, kostenlos für alle. In dem spielte 1984 ein noch blutjunger Johnny Depp seine erste Kinorolle. Auch dieser Hollywoodstar ist derzeit in Venedig zur morgigen Weltpremiere von "Black Mass". Gut möglich, dass er es sich nicht nehmen lässt und überraschend bei "Nightmare" auftaucht, um Craven die letzte Ehre zu erweisen.