Erstellt am: 3. 9. 2015 - 12:01 Uhr
Hoffnung und Verzweiflung in Budapest Keleti
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Chaotische Szenen am Ostbahnhof in Budapest. Am Morgen hat die ungarische Polizei das herrschaftliche Gebäude für die Flüchtlinge wieder geöffnet und die Absperrungen aufgehoben. Die Refugees, die seit Tagen in einer U-Bahn-Unterführung vor dem Bahnhof auf dem Boden schlafen, strömen in Massen in das Gebäude. Ihr Ziel: ein Zug nach Deutschland.
FM4 / Alex Wagner
Dicht gedrängt pressen sie sich in einen grün-gelben Zug, viele wollten an Bord, nicht alle haben es geschafft. Kleine Kinder wurden über den Köpfen der Erwachsenen in den Zug gehoben, in den Zugabteilen blieb kaum Platz zum Atmen. Immer wieder kommt es zu kleineren Auseinandersetzungen, einzelne Flüchtlinge drohen mit Fäusten, immer wieder sind Schreie zu hören, Aufregung, Hektik. Aber auch Solidarität und Hilfsbereitschaft, so viele wie möglich sollen in die Waggons, gegenseitig helfen sich die Flüchtlinge, einen Platz zu ergattern, um Budapest endlich verlassen zu können.
Vorerst jedoch soll es bis auf unbestimmte Zeit keine internationalen Zugverbindungen geben, schreibt die Nachrichtenagentur AFP. Auch die österreichische Polizei bestätigt, dass derzeit keine Züge von Budapest nach Wien fahren. Wie es weitergehen soll, darüber wird derzeit beraten.
FM4 / Alex Wagner
Tatsächlich fährt der Zug, in den die Flüchtlinge stürmen, von Budapest ins ungarische Sopron - und nicht nach Deutschland. Vielen Asylwerbern ist das aber gar nicht klar, weil die Situation am Ostbahnhof verwirrend ist und es wenig Bahnpersonal gibt, das mit Infos aufklärt. Zu dem Missverständnis hat auch der Aufdruck der Lok beigetragen: eine Sonderedition des Paneuropäischen Picknicks zeigt Maschendrahtzaun und menschliche Silhouetten, die eine Deutschlandflagge hochhalten. Für viele Refugees war deshalb klar, dieser Zug muss nach Deutschland fahren, und glaubten der Anzeigetafel nach Sopron nicht.
FM4 / Alex Wagner
"Das ist die Farbe von Deutschland, ich kenn deutsche Züge. Ich glaub, dieser Zug geht nach Deutschland oder Österreich", meint Zand aus Syrien. Er ist mit seiner Frau und seinen fünf Kindern im Alter zwischen fünf und 14 Jahren seit einem Monat auf der Flucht. Er hat vor Jahren schonmal in Deutschland gelebt, jetzt will er dorthin wieder zurück. "In Syrien gibt es gar nichts. Nur Bomben, die töten." Seit Tagen lebt er mit seiner Familie auf der Straße vor dem Ostbahnhof in Budapest, ohne Betten, ohne Decken, und hat darauf gewartet, dass die Tore zum Bahnhof wieder geöffnet werden. In einem Hotel konnte er nicht übernachten, die günstigen Zimmer sind ausgebucht. Zand hat es mit seiner Familie in den Zug geschafft, der nach Sopron fährt. Als ich ihm das sage, glaubt er mir nicht und ich kann und will seine Hoffnung nicht zerstören.
Ungarn ist in den vergangenen Wochen zu einem der Brennpunkte der europäischen Flüchtlingskrise geworden. Heftig wird der 175 Kilometer lange Grenzzaun zu Serbien kritisiert, den das Land errichtet hat, um die Flüchtlingsströme aufzuhalten. Am Montag waren für 24 Stunden bereits einmal die Tore am Ostbahnhof in Budapest für die Flüchtlinge offen. Mehr als 3.000 Refugees fuhren via Wien nach Bayern, in der Hoffnung, dort bleiben zu können. Die deutsche Regierung hatte eine Woche zuvor bekannt gegeben, Flüchtlinge aus Syrien nicht mehr in andere EU-Länder zurückzuschicken, worauf es zu Verwirrungen gekommen ist, ob Deutschland das Dublin-Abkommen außer Kraft setzen will. Dieses besagt, dass Flüchtlinge in dem EU-Land Asyl beantragen und verweilen müssen, das sie zuerst betreten. Seitdem werden einmal mehr die Forderungen nach einer europäischen Lösung der Flüchtlingskrise lauter. Doch das wird dauern.
Der ungarische Staatspräsident Viktor Orbán hat heute in Brüssel die Verantwortung an Deutschland abgegeben: "Das Problem ist kein europäisches Problem. Das Problem ist ein deutsches Problem", sagte Orbán auf einer Pressekonferenz mit EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Orbán ist sich sicher: Niemand wolle in Ungarn bleiben. Und in der "Frankfurter Allgemeine Zeitung" kritisierte Orbán einmal mehr die "verfehlte Einwanderungspolitik" der EU. Ungarn möchte laut EU-Kommission eine Nothilfe von acht Millionen Euro erhalten, um ankommende Flüchtlinge zu versorgen.
"Lasst uns gehen!"
Nicht nur in Österreich und in Deutschland ist die Bereitschaft, Flüchtlingen zu helfen, groß. In Ungarn kümmern sich vor allem Freiwillige rund um die private Initiative "Migration Aid" um die Flüchtlinge in Budapest. Sie haben es geschafft, eine sogenannte Transitzone zu errichten, sammeln Spenden für die Refugees, versorgen sie mit Trinkwasser, Lebensmitteln, ärztlicher Behandlung, Übersetzung und rechtlicher Beratung. Mittwoch Abend haben sie etwa auch Zeichentrick-Filme für die Dutzenden Kinder, die in der U-Bahn-Unterführung vor dem Ostbahnhof in Budapest übernachten mussten, an die Wand gebeamt.
Tausende Flüchtlinge haben die vergangene Nacht zusammengepfercht auf dem Steinboden der U-Bahn-Unterführung verbracht. Manche schliefen auf Decken oder Luftmatratzen, vereinzelt haben sie Schlafsäcke oder sogar ein Zelt aufgestellt. Die meisten aber mussten auf dem kalten Boden schlafen, eine Plastikflasche dient vielen als Ersatz fürs Kopfkissen. Die ungarische Regierung will hier in den nächsten zwei Wochen ein echtes Flüchtlingscamp für 800 bis 1.000 Personen errichten, 1,2 Millionen Euro sollen dafür ausgegeben werden. Bisher wird den Flüchtlingen aber nur von Privatpersonen rund um "Migration Aid" und von den Maltesern geholfen.
Völlig unzureichend sind die hygienischen Bedingungen in der U-Bahn-Unterführung. Lediglich acht zusätzliche Mobil-Klos wurden zu den vorhandenen Sanitäranlagen für die Flüchtlinge aufgestellt, es gibt nur eine Wasserstelle, an der Zähne geputzt, Füße und Kleidung gewaschen werden und Wasser getrunken wird.
Siehe auch Natalie Brunners Bericht Gestern Nacht, Endstation Budapest
Zsuzsanna Zsohár ist eine Mitarbeiterin der Hilfsorganisation Migration Aid. Sie versucht mit ihrem Team an Freiwilligen quasi im Alleingang, das Chaos vor dem Ostbahnhof so gering wie möglich zu halten. Einen Tag hatte die Organisation um Geldspenden gebeten, mehr als 3.000 Euro wurden auf ihr Konto einbezahlt. Und auch für nette Kleinigkeiten ist Platz: Gestern verteilte Zsuzsanna Blumen, die von der Demonstration übrig geblieben sind, an die Flüchtlinge. Rund 7.000 Menschen haben gestern für ein gerechtes und menschenfreundliches Fremdenrecht protestiert. Migration Aid besteht aus etwa 120 Aktivisten und 6.000 Unterstützern. Für Zsuzsanna ist es beachtenswert, dass es trotz der Situation der Flüchtlinge vor Ort kaum zu Ausschreitungen oder Gewalt gekommen ist und dass die Tore des Ostbahnhofs nicht gestürmt wurden.