Erstellt am: 3. 9. 2015 - 16:46 Uhr
Gestern Nacht, Endstation Budapest
Ich komme Mittwoch Nachmittag an den Bahnhof, als klar wird, dass Sachen gebraucht werden. Als ich durch die Passage gehe und meine Kamera sichtbar ist, bitten mich einige, Photos von ihnen und ihrer Familie zu machen, für die Zeitung. Eine Gruppe von Jungs fragt lachend um ein Foto, sofern ich versprechen kann, dass ich "no police" bin.
Am Eingang der Passage steht Migration Aid, eine NGO, die zu helfen versucht. Es stapeln sich hier aber anders als in Wien keine Sachspenden von Privatpersonen. Von Zeit zu Zeit betreten Passanten mit großen Einkaufstaschen die Passage. Sofort bildet sich eine Traube von Männern um sie, es wird nervös, aber zurückhaltend auf die Verteilung gewartet. Als ein Mann sich ohne zu warten einfach einen Liter Milch greift und damit wegläuft, wird er von den Umstehenden lächelnd ausgebuht und ausgepfiffen. Kids nähern sich von hinten und versuchen hinter dem Rücken der Verteiler etwas aus den Taschen zu fischen, von vorne hätten sie keine Chance. Milch und andere Lebensmittel werden unter den Menschen im Bahnhof verteilt.
Die meisten Frauen sitzen an die Wand gelehnt, einige haben ihre Gesichter mit Tüchern bedeckt. Eine alte Dame weint und wird von ihrer Familie beruhigt. Es gibt viele Familien mit Kindern. Immer noch unterhalb des Bahnhofgebäudes, aber im Freien hat sich ein Lager afghanischer Teenager gebildet. Sie malen Fahnen und zeichnen Karikaturen und haben eine kleine Outdoor-Galerie mit auf Säulen geklebten Zeichnungen eingerichtet. Als ich die Werke photographiere, kommt sofort der Schöpfer und erzählt mir, was er geschrieben hat und was er damit ausdrücken will. Liebe und Sehnsucht nach einem Afghanistan, das es so nicht gibt.
Die Stimmung in der unterirdischen Siedlung schwankt zwischen Apathie und fiebriger Hektik. Die von den Behörden eingerichtete Transitzone muss sauber gehalten werden, überall stehen Schilder "No Littering". Gruppen von jungen Männern achten darauf, dass alles sauber bleibt, sie putzen und kehren ständig und halten alles sauber. Es gibt nur eine Wasserleitung und fünf Dixie-Klos, die vor dem Bahnhof stehen.
Vor dem Haupteingang des Bahnhofs versuchen Männer sich zu organisieren, zu debattieren, den Flüchtlingen eine hör- und sichtbare Stimme zu geben. Im Scheinwerferlicht steht Korrespondentin neben Korrespondentin, dahinter die sitzenden Flüchtlinge, im Hintergrund die PolizistInnen.
Siehe auch Alex Wagners Bericht Hoffnung und Verzweiflung in Budapest Keleti
Die Buden rund um den Bahnhof machen das Geschäft ihres Lebens, Essen und vor allem SIM-Karten werden von allen gebraucht. Im Abseits stehen planlos einige wenige Neonazis. Daneben ist ein Seiteneingang, an dem Touristen voreilig ihre Pässe zeigen, während Pendler und Menschen in Anzügen einfach vorbeieilen. Flüchtlinge können das nicht. Der Zug nach Wien ist leer und niemand will meine Dokumente sehen. Mir gegenüber liegt eine chinesische Touristin auf drei Sitzen und schläft.