Erstellt am: 3. 8. 2015 - 19:05 Uhr
Vor dem Ende
"Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt", schreibt Max Frisch 1978 in seiner Erzählung "Der Mensch erscheint im Holozän". Ein alter Mann steht nach wochenlangen und ungewöhnlich starken Regenfällen am Fenster, fest überzeugt vom eigenen Untergang in einer bevorstehenden Sintflut. Max Frischs Katastrophenszenario könnte man als Reaktion auf den damals langsam aufkommenden Diskurs um den Klimawandel lesen. Frisch reiht sich damit in eine lange Tradition von Autoren ein, in deren Werken sich die Bedrohungsszenarien ihrer Zeit widerspiegeln. Noch rund zwanzig Jahre davor flackern zu Beginn des kalten Krieges täglich Anweisungen zum richtigen Verhalten im Falle eines Atomschlags auf amerikanischen TV-Schirmen "Duck and cover!". Und die Handlung des damals erschienenen Theaterstücks "End Game" von Samuel Beckett lässt sich mühelos in einen Atomschutzbunker verfrachten, in dem die Nahrungsmittel knapp werden und die Welt vor den Fenstern im Feuer atomarer Gammastrahlen verglüht.
Das Ende der Zivilisation
Auch in "Lärm und Wälder", dem Debüt des 26jährigen Autors Juan S. Guse, bedroht eine nahende Katastrophe die Bewohner einer argentinischen Gated Community. Soziale Unruhen vor den Mauern der Gemeinschaft nehmen zu, das Sicherheitspersonal wird laufend verstärkt. Gerüchte über gewalttätige Übergriffe auf andere Communitys häufen sich. Anders als in anderen kürzlich erschienenen deutschsprachigen Debüts, wie etwa Valerie Fritschs "Winters Garten", in dem die Welt als abstraktes Ganzes ihrem Ende zusteuert, oder Roman Ehrlichs aktualisiertem Setting eines Jahres ohne Sommer in "Das kalte Jahr", geht es in Guses Erzählung um den ökonomischen Kollaps, den Zusammenbruch der Gesellschaft und das Ende der Zivilisation.
Bug-Out Haus und Mondkolonie
Hector, Pelusa und deren Kinder Henny und Ignacio, eine Patchwork-Familie des gehobenen Mittelstandes, leben in einem jener standardisierten Häuser (Vorgarten, Garage, Pool) der Gated Community. Sie alle sind einem Klima von fast schon paranoider Alarmbereitschaft, einer stetig wachsenden unterschwelligen Hysterie ausgesetzt. Die Allgegenwart der Sicherheitsmaßnahmen gegen potentielle Eindringlinge macht die Gefahr in den Köpfen erst präsent. Anhand seiner Protagonisten spielt Guse die unterschiedlichen Reaktionen und Vorstellungen von der nahenden Katastrophe durch: Der Familienvater Hector schmiedet Pläne für ein sogenanntes "Bug-Out"-Haus in der Wildnis und beginnt letztlich einen Bunker neben dem Haus zu graben. Henny, einer der beiden Söhne, entwickelt Pläne für eine Mondkolonie und Pelusa, die Hauptfigur und Mutter, flieht in die Arme einer freikirchlichen Gemeinde.
S. Fischer Verlag
"Lärm und Wälder" ist im S. Fischer Verlag erschienen
Unklare Vorzeichen
Als Leser weiß man, ebenso wie die Protagonisten, nie genau, wie ernst die Lage wirklich ist. Da schlägt mal jemand in der Nacht an die Fenster der Familie, dann erfahren die Protagonisten von einer Straßenblockade vor den Stadtmauern, aber sehr lange passiert nichts wirklich Bedrohliches.
Stattdessen sind es vor allem die Tiere, die sich seltsam, ja geradezu absurd verhalten. Im städtischen Zoo versuchen Tierpfleger vergeblich, eine Anakonda daran zu hindern, sich selbst zu verschlingen, an einer anderen Stelle taucht ein Schwarm (!) unzähliger wilder Hunde auf, die auf Ästen und Stromleitungen sitzen, ein Kolibri vor dem Fenster wird vom Sonnenlicht wie mit Röntgenstrahlen durchleuchtet.
Kampf um die Deutungshoheit der Wirklichkeit
"Die Wirklichkeit ist ein einstürzendes Haus", heißt es einmal, und das trifft den thematischen Kern von "Lärm und Wälder": der Kampf um die Deutungshoheit der Wirklichkeit - sind wir wirklich in Gefahr? Wird gleich alles kippen? Brauchen wir noch mehr Schutz und Sicherheit? Die Art und Weise, wie sich die Hauptfiguren die Katastrophe ausmalen, wie sie die Gegenwart wahrnehmen und zu einer katatstrophischen Zukunft hochrechnen, legt auch gleichzeitig ihr Menschenbild offen:
"[...] es werde der Tag kommen, und er sei nicht mehr weit entfernt, an dem man den eigenen Nachbarn nicht mehr trauen könne und sie von einem Tag auf den anderen vor deinem Haus stehen würden, weil du etwas hast, was sie brauchen."
Der Vater, der sich eine Waffe besorgt und einen Bunker gräbt, hat ein "pessimistischeres" Menschen(feind)bild als Pelusa, die in der freikirchlichen Gemeinde für den Zusammenhalt der Menschheit betet. Am Konflikt dieser beiden Ideologien scheitert schließlich auch der Zusammenhalt der Familie.
Juan S. Guse ist ein packendes und beunruhigend aktuelles Debüt über das Vorspiel zur Katastrophe gelungen. Eine Empfehlung!