Erstellt am: 15. 4. 2015 - 13:55 Uhr
Love will tear us apart
Buchempfehlungen und Interviews mit AutorInnen auf
Das Garten-Idyll, in das Anton Winter hineingeboren wird, ist eine Aussteiger-Utopie, ein Rückzugsort für Menschen, abgekapselt vom Rest der Zivilisation. Ärzte, Fabrikantensöhne und hochgewachsene Frauen mit Strohhüten leben hier in dieser Kolonie und wollen vom Treiben der Stadt in Ruhe gelassen werden. In Winters Garten herrscht ein ganz eigener Rhythmus. Die Alten sitzen abends auf der Veranda und spielen Geige, die Jungen bekommen von Hofhunden das Blut von den aufgeschlagenen Knien geleckt. Alles wächst in einer Üppigkeit und Natürlichkeit, von der die Menschen in der Stadt nur zu träumen wagen. Werden und Vergehen sind hier im Einklang. Leben und Tod, das Aufblühen und Verwelken sind als Gegensätze an diesem Ort überall sichtbar.
Suhrkamp
Anton Winter ist als Kind von allem Alten fasziniert, von den Greisen, die ihren Tod vortäuschen und ihn damit erschrecken wollen, wie von jenen Geschöpfen, die gar nicht das Licht der Welt erblickt haben. In der Speisekammer, zwischen Holundersaft und Käselaiben, bewahrt Antons Großmutter Gläser mit Fehlgeburten auf, die im Laufe ihres Lebens entstanden sind. Mit kindlicher Neugierde erforscht Anton die fantastische Welt aus Gewebe und Nervenzellen und ist von den in Formalin getränkten Geschöpfen mit durchsichtiger Haut fasziniert.
"Es war eine heilige Kinderzeit in diesem Garten und in diesem großen, todesvernarrten Haus, in dem Anton Winter so sehr zu Hause war und nichts anderes lernte, als ein großer Mensch zu werden und am Ende so klein zu sein wie alle anderen und keine Angst davor zu haben. Die Kinder, so schien es, fürchteten sich vor nichts, und so gehörte ihnen alles: vor allem das Leben."
"Die Zukunft ist der Eintritt aller schlechten Vorahnungen"
Es wäre kein Text von Valerie Fritsch, ginge es nicht um die Ästhetik des Verfalls, um nichts weniger als das Warten auf den Untergang der Welt und das Schwelgen in Lakonie. Valerie Fritschs Sprache ist wortgewaltig und schonungslos zärtlich, die Metaphern werfen einen detaillierten Blick auf das Zerfallen einer Zivilisation. Als Anton Winter älter wird, verlässt er den Garten und zieht in die Stadt. Er vereinsamt als Vogelzüchter in einem Penthouse hoch oben, wo die Menschen wie Ameisen aussehen. Die Lebensmittel sind knapp, wer noch nicht verhungert ist, ist spindeldürr. Die einzigen, die einen dicken Bauch vor sich hertragen, sind die Schwangeren, die die letzte Hoffnung auf ein Überleben und eine Zukunft in eine dystopische Welt gebären. Im Alter von 42 Jahren wird Antons Eremitentum jäh unterbrochen, als Frederike in sein Leben tritt. Die beiden verlieben sich ineinander, ohne viele Worte zu wechseln, es ist eine schräge Beziehung in schrägen Zeiten, gezeichnet vom drohenden, nicht näher ausformulierten Ende der Welt. Gemeinsam mit Frederike kehrt Anton in das Idyll seiner Kindheit zurück und fiebert dort mit seiner Liebsten der Apokalypse entgegen.
"Es ist leise geworden in unserer Stadt, entsetzlich leise, und die Menschen so dünn. An ihnen erkennt man, dass es zu Ende geht. Den einsamsten aller Planeten hat mein Großvater die Erde genannt, weil hier jeder für sich allein kämpft und jeder für etwas stirbt, für das man so gerne leben würde."
Valerie Fritsch
"Kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig." Das ist die Prämisse, unter der die Grazer Autorin und Fotografin Valerie Fritsch schreibt. 2010 hat sie mit ihrer Kurzgeschichte den dritten Platz bei FM4 Wortlaut belegt. Seither hat Valerie Fritsch zwei Romane, Gedichte, Reisetexte und Film-Drehbücher geschrieben. Mit "Winters Garten" hat die 25-Jährige im April Arno Geigers Roman "Selbstporträt mit Flusspferd" von der Spitze der ORF-Bestenliste verdrängt.
"Winters Garten" ist im besten Sinne eigenartig, der Roman hebt sich vom Rest der Literaturlandschaft ab - kein Wunder, dass das Buch von vielen Seiten gelobt wird. Man sollte sich Zeit nehmen, damit man keine der zahlreichen Beobachtungen und wortgewaltigen Formulierungen überliest - auch wenn sich Valerie Fritsch das ein oder andere Mal in ihrer Beschreibungslust in kleine Widersprüchlichkeiten verfranst. In der Figur von Anton Winter steckt viel von Valerie Fritsch selbst, auch sie ist vom Tod fasziniert. Sie reist unentwegt in die ärmsten Gegenden der Welt, erlebt das Leid der Menschen, aber auch deren Freude und die Schönheit der Natur hautnah und verarbeitet ihre Erfahrungen dann wiederum in ihren Texten. Jedem, der über die Qualität neuer österreichischer Literatur herzieht, sei dieses Buch als strahlendes Gegenbeispiel empfohlen.