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Ali Cem Deniz

Das Alltagsmikroskop

8. 6. 2015 - 13:12

Der Damm ist gebrochen

Die AKP verliert bei den Wahlen in der Türkei die Absolute und die pro-kurdische HDP zieht ins Parlament ein. Richtig feiern will aber noch niemand.

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Die Neuerfindung der Türkei
Die Türkei wählt am Sonntag nicht nur ihr neues Parlament, sondern entscheidet darüber, wie es mit der Republik weitergeht.

Nach der historischen Wahl steht die türkische Gesellschaft etwas verkatert auf und fragt sich, was letzte Nacht passiert ist und wie es jetzt weitergehen soll. Eine Koalition kann sich nach 13 Jahren Alleinregierung der AK Parti niemand mehr so richtig vorstellen.

Erdogan beim Wählen

APA/EPA/TOLGA BOZOGLU

Erdogan bei der Stimmabgabe

Die ehemalige Kurdenpartei HDP hat sich nicht nur als dominante Stimme der KurdInnen, sondern auch als linksliberale Alternative, durchgesetzt. Mit 13 Prozent springt sie über die 10% Hürde für den Einzug ins Parlament und belegt den vierten Platz. Die AKP hat mit ihrer scharfen Rhetorik die kurdischen WählerInnen an die HDP verloren, ohne die erwünschte Unterstützung der NationalistInnen zu bekommen.

Die Parteien:

  • AKP: Die "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" verspricht Stabilität und Fortsetzung ihrer bisherigen Politik
  • CHP: Die "Republikanische Volkspartei" sieht sich als Hüterin der säkularistisch-kemalistischen Staatsideologie. Trotz neuem sozialdemokratischen Image kämpft sie noch immer mit Berührungsängsten gegenüber den Konservativen und der kurdischen Minderheit.
  • MHP: Die "Nationalistische Aktionspartei" ist die erste Anlaufstelle für alle NationalistInnen der Türkei.
  • HDP: Die "Demokratiepartei der Völker" ist der wichtigste politische Akteur der KurdInnen. Sie versucht zunehmend, linke und liberale WählerInnen zu erreichen, die der CHP skeptisch gegenüber stehen.

Mit Slogans wie "Neue Türkei" konnte sie die religiös-konservative Mittelschicht erneut mobilisieren, aber sie hat dabei die jüngeren WählerInnen verloren. Die sind in der Erdogan-Periode groß geworden und sind genervt davon zu hören, wie schlecht alles vor der AKP war.

Damit wird der von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan erhoffte Umstieg auf ein Präsidialsystem auf Eis gelegt, aber vorerst auch manch andere Reform. Die Türkei ist derzeit unregierbar, obwohl die AKP mehr als 40 Prozent bekommen hat.

Niemand hat Lust auf eine Koalition

Auch der extreme Gegenpol der HDP, die ultranationalistische MHP kann sich über Zuwachs durch ehemalige frustrierte AKP-WählerInnen freuen. Das ist in der Türkei kein Widerspruch. Mit ihrer Kampagne gegen syrische Flüchtlinge konnte die MHP zusätzliche WählerInnen mobilisieren. Die kemalistische CHP verliert weiter Stimmen. Sie bleibt zwar zweitstärkste Kraft, rutscht aber weiter in die Bedeutungslosigkeit.

Wahlzettel Türkei

APA/EPA/SEDAT SUNA

Dieses Ergebnis muss auch die Opposition verdauen, denn die scheint keinen Plan zu haben, wie es weitergehen soll. Eine Koalition mit der AKP schließen alle aus, wenn auch einige MHP-Abgeordnete die Tür nicht ganz zusperren wollen. Ihr Vorsitzender Devlet Bahceli spricht sich allerdings klar gegen jede Koalitionsbeteiligung aus und redet bereits von Neuwahlen. Eine Koalitionsregierung aus CHP, MHP und HDP, die die AKP in die Opposition schicken könnte, scheint ebenfalls unwahrscheinlich.

Erinnerungen an düstere Zeiten

Die Börse reagiert auf die Ergebnisse nervös. Der Dollar erreicht einen Höchstwert, der Euro steigt weiter an und die Lira sinkt. Unter Koalition versteht die türkische Gesellschaft Stagnation. Erinnerungen an die düsteren 90er Jahre werden wach. Damals führten schwache Koalitionsregierungen das Land von einer Neuwahl zur anderen und von einer Wirtschaftskrise zur nächsten.

Im Gegensatz zu den 90ern sind das Militär und die mächtige Bürokratie aus dem politischen Geschehen ausgeschlossen. Die Rekord-Wahlbeteiligung von knapp 87 Prozent zeigt, dass die türkische Gesellschaft ihr Vertrauen in die Demokratie setzt und sich von den politischen Parteien gemeinsame Lösungen erhofft.

Die kommende Phase wird eine Bewährungsprobe für die Stabilität und Nachhaltigkeit der wirtschaftlichen und politischen Reformen, mit denen die AKP ihre bisherigen Erfolge verbuchen konnte.

Was passiert mit dem Friedensprozess?

Keine von den Parteien dürfte ein Interesse an wirtschaftlicher Stagnation haben. Kompliziert wird es in der Frage um den Friedensprozess mit der kurdischen Minderheit. Wenn es nach der MHP geht, würde sie am liebsten sofort die PKK wieder mit Waffen bekämpfen. Die AKP hingegen hat sich auf der Jagd nach den Stimmen der nationalistischen WählerInnen zumindest rhetorisch vom selbst initiierten
Friedensprozess entfernt. Außerdem macht jetzt ein Teil der AKP-WählerInnen die HDP für die "Niederlage" ihrer Partei verantwortlich. Wenn also jetzt tatsächlich eine AKP-MHP Koalition kommen sollte, könnte die Motivation für den Friedensprozess weiter sinken.

Selahattin Demirtas von der HDP

APA/EPA/DENIZ TOPRAK

Die HDP-Spitzen Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag feiern vorsichtig ihren Wahlerfolg

Das wäre besonders bitter für die HDP. Sie sieht sich als politische Stimme der KurdInnen eindeutig bestätigt, aber sie weiß, dass sie Gesprächspartner braucht, damit der Prozess weitergehen kann. Hier wird die Position von PKK-Gründer Abdullah Öcalan entscheidend sein. Er sitzt im Gefängnis, gilt aber weiterhin als einer der wichtigsten Akteure im Friedensprozess.

Für den Friedensprozess wäre eine AKP-HDP Koalition am günstigsten, aber die HDP schließt eine Zusammenarbeit mit der Regierungspartei aus. Die HDP verdankt ihren Sieg auch den Stimmen der AKP-GegnerInnen. Wenn sie jetzt mit diesen Stimmen eine Koalition eingeht, würde sie sich selbst schaden. Offen bleibt, ob MHP oder HDP eine Minderheitsregierung der AKP unterstützen würden.

Die Neuerfindung der Türkei geht weiter

Innerhalb eines Jahres ist die Türkei mit Regionalwahlen, Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen drei Mal an die Urne gegangen. Die Beteiligung war zwar so hoch wie nie zuvor, Neuwahlen könnten die WählerInnen dennoch zu sehr ermüden. Das aktuelle Ergebnis bringt eine Pattstellung, die niemanden zufrieden stellt.

Die Parteien sollten dieses Resultat akzeptieren und als eine Aufforderung zur Zusammenarbeit verstehen. AKP-Spitzenkandidat Ahmet Davutoglu hat bereits in seiner Siegesrede die anderen Parteien dazu aufgefordert, gemeinsam eine neue zivile Verfassung zu erarbeiten.

Erdogan hat in einem ersten Statement die hohe Wahlbeteiligung gelobt und betont, dass alle Parteien nach einer kritischen Selbstreflexion gemeinsam an der Stabilität der Türkei und der Erhaltung der demokratischen Fortschritte arbeiten müssen.

Türken feiern auf der Straße nach der Wahl

APA/EPA/SEDAT SUNA

Es gibt auch gute Nachrichten: noch nie wurden so viele Frauen ins Parlament gewählt. Zum ersten Mal nach Jahrzehnten gibt es wieder nicht-muslimische Abgeordnete. Die Wahlen sind sauber und ohne Zwischenfälle abgelaufen. Das zeigt, dass die Türkei eine reife Demokratie und keine Diktatur ist, auch wenn Erdogan immer wieder autoritäre Töne geschlagen hat.

Das aktuelle Ergebnis bringt Unklarheit, aber auch eine Gelegenheit, um die Polarisierung der Gesellschaft zu überwinden und gemeinsam eine "neue Türkei" aufzubauen. Die Parteien sollten diese Chance nicht verpassen.