Erstellt am: 6. 6. 2015 - 12:19 Uhr
Die Neuerfindung der Türkei
Die Parteien:
- AKP: Die "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" verspricht Stabilität und Fortsetzung ihrer bisherigen Politik
- CHP: Die "Republikanische Volkspartei" sieht sich als Hüterin der säkularistisch-kemalistischen Staatsideologie. Trotz neuem sozialdemokratischen Image kämpft sie noch immer mit Berührungsängsten gegenüber den Konservativen und der kurdischen Minderheit.
- MHP: Die "Nationalistische Aktionspartei" ist die erste Anlaufstelle für alle NationalistInnen der Türkei.
- HDP: Die "Demokratiepartei der Völker" ist der wichtigste politische Akteur der KurdInnen. Sie versucht zunehmend, linke und liberale WählerInnen zu erreichen, die der CHP skeptisch gegenüber stehen.
1. Wer wird gewinnen?
Recep Tayyip Erdogan wird nicht gewinnen - zumindest offiziell. Denn als Staatspräsident muss er unparteiisch bleiben und darf nicht antreten. Dennoch dreht sich alles um ihn und er mischt mit zahlreichen öffentlichen Auftritten im Wahlkampf mit. Wie wird der Kampf also ausgehen?
Erdogans Ex-Partei AKP wird den ersten Platz holen und nach ihr kommen CHP, MHP und die HDP. An dieser Reihenfolge hat sich seit 13 Jahren nichts geändert und auch für Sonntag erwarten die Umfrageinstitute keine großen Überraschungen. Am Wahlabend wird es aber dennoch enorm spannend.
Seit 2002 regiert die AKP alleine in der Türkei. In dieser Zeit hat das Land einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt und auch politisch gab es große Veränderungen: die Regierung führt einen Friedensprozess mit der kurdischen Minderheit, die Religiös-Konservativen sind in das politische und gesellschaftliche Zentrum gerückt und in den Beitrittsverhandlungen mit der EU gab es Fortschritte.In den letzten Jahren stagnieren diese Entwicklungen immer wieder.
Das Land hat seit 2010 ein Referendum, drei Wahlen und die Gezi-Proteste erlebt und befindet sich im Dauer-Wahlkampf. Bei der letzten Wahl wurde 2014 Recep Tayyip Erdogan zum ersten direkt gewählten Staatspräsidenten der Türkei. Diese Wahl war der erste Schritt zu einem neuen Präsidialsystem.
Sollte die Regierungspartei AKP die absolute Mehrheit holen, könnte sie mit einer neuen Verfassung ihrem ehemaligen Vorsitzenden Recep Tayyip Erdogan wieder eine aktivere Rolle in der Politik geben.
Deshalb haben die drei großen Oppositionsparteien im Grunde ein einziges Wahlversprechen: Sie werden die Absolute der AKP verhindern. Ausgerechnet die kleinste Partei HDP, kann dieses Versprechen erfüllen. Sie hat mit ihrem Spitzenkandidaten Selahattin Demirtas schon bei den Präsidentschaftswahlen mit knapp 10% für eine kleine Überraschung gesorgt.

APA/EPA/SEDAT SUNA
Das türkische Wahlsystem hat eine enorme Hürde von 10%. Sollte die HDP als viertstärkste Kraft die Hürde schaffen, würde die AKP mit großer Wahrscheinlichkeit die absolute Mehrheit nicht erreichen. Deshalb zählt die pro-kurdische HDP auch auf die Unterstützung von türkischen WählerInnen im Westen der Türkei, die sonst Probleme damit hätten, die HDP unter der Führung des kurdischstämmigen Selahattin Demirtas zu wählen.
2. Was ist das für ein Präsidialsystem?
Für die Opposition ist die Antwort klar: Erdogan möchte seine Macht weiter ausbauen, das Parlament schwächen und die Gewaltenteilung außer Kraft setzen. Trotz dieser Kritik zeigen die meisten Umfragewerte, dass die AKP nicht unter 40 Prozent fallen wird. Die AKP-WählerInnen wollen jedoch keinen Quasi-Diktator. Denn aus ihrer Sicht ist Erdogan kein mächtiger Alleinherrscher, sondern bewegt sich trotz großer Wahlerfolge noch immer auf dünnem Eis.

APA/EPA/SEDAT SUNA
In den letzten 13 Jahren hat die AKP tatsächlich mehrere Putschversuche durch Militär und Justiz gerade noch überlebt. 2007 forderte die Armee die Regierung zum Rücktritt auf, 2008 wollte der Verfassungsgerichtshof die Regierungspartei verbieten. Die Vorgängerparteien der AKP wurden allesamt verboten oder vom Militär abgesetzt. Erdogan trifft mit dem Präsidialsystem einen Nerv in der islamisch-konservativen Wählerschicht, die noch heute um ihre politische Teilnahme fürchtet.
Die AKP findet auch in der Außenpolitik Argumente für Erdogan als Präsidenten. Der Putsch des ägyptischen Militärs gegen den gewählten Präsidenten Mursi und die verhängte Todesstrafe, haben in der konservativen Wählersicht der Türkei Erinnerungen an alte Zeiten geweckt. Die zerfallenden Nachbarstaaten Irak und Syrien zwingen zudem das Land, schnelle Entscheidungen zu treffen.
Auch hier wird ein Kritikpunkt der Opposition zum Proargument für die AKP-Wählerschaft. Seine GegnerInnen werfen Erdogan vor, dass er mit seinem rauhen, autoritären Ton die Gesellschaft polarisiert. Seine UnterstützerInnen hingegen wünschen sich ein starkes Präsidialsystem, um eine extreme Spaltung der Gesellschaft, wie in den Nachbarstaaten, zu verhindern.
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APA/EPA/SEDAT SUNA
3. Wie wird die Türkei am Montag ausschauen?
Wo die einen Licht sehen, sehen die anderen Schatten und umgekehrt. Die Fronten sind verhärtet, aber Polarisierung bedeutet auch meistens ein hohes politisches Interesse. Deswegen erwarten sich alle Parteien eine hohe Wahlbeteiligung, die 85 Prozent erreichen könnte. Der Wahlkampf ist oberflächlich betrachtet voll mit populistischen Slogans und Klischees, zeigt aber bei genauerem Hinschauen, dass die Türkei eine neue Richtung einschlägt.
Nicht nur die politischen Parteien, sondern die gesamte Gesellschaft verhandelt und streitet über essenzielle Fragen. Wie soll die "türkische Identität" im 21. Jahrhundert ausschauen? Wie werden ethnische und religiöse Minderheiten an der Gesellschaft teilnehmen? Wie soll das Verhältnis von Religion und Staat ausschauen? Welche Änderungen braucht das politische System? Welche Position nimmt das Land gegenüber dem Westen und in der eigenen Nachbarschaft ein?
Die Türkei versucht sich neu zu erfinden und wird damit auch am Montag nicht aufhören – egal wie die Wahl ausgeht.
Reality Check Special: Turkey Today
Turkey is preparing itself for a general election and this is a very interesting time in the politics of the nation. Recep Tayyip Erdogan was voted in as president in 2014, having served as prime minister since 2003. Now his party (the AKP) is set for a major test as people are being asked to decide upon the future direction of the country. If the AKP were to win a majority, what changes would they like to make to the constitution? How much is religion coming into the political debate, what about the Kurdish peace process and where do talks stand on Turkey as a future EU member? And what’s the conversation amongst the Turkish Community in Austria about where the country currently stands politically?
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