Erstellt am: 30. 4. 2015 - 21:00 Uhr
Sibylle Berg zu Gast im FM4 Doppelzimmer am 1.Mai
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Ich habe verschlafen. Der Wecker zeigt 8 Uhr 38. Vier Minuten später sitze ich im Taxi. Um 9 Uhr 3 bin ich am Flughafen. Ich erhole mich langsam von dem Aufwachschock. Als ich drei Stunden später die kleine Bar im Zentrum von Zürich betrete, habe ich alle Gedanken wieder gesammelt, die mir die letzten zehn Tage für dieses Gespräch durch den Kopf gegangen sind. Ich habe fast alle Bücher von Sibylle Berg in den letzten Jahren gelesen und ich freue mich auf diese Begegnung.
Der Tag, an dem sie ihr falsches Leben verließ und die Schweizer Wiesen entdeckte.
Als Kind hatte sie ein klares Bild vor Augen: Sie sitzt, mit einer Lesebrille auf der Nase, an einem Schreibtisch, eine Schreibmaschine vor sich. Sie ist Schriftstellerin. Wenn sie den Blick zwischendurch hebt, fällt der Blick durch ein Fenster und auf eine Wiese. Die Wiese ist mit Kühen geschmückt und gehört der Schweiz.
Das hochgeschossene Mädchen mit dem langen Gesicht und den Ohren, die in der Erinnerung der erwachsenen Frau sehr groß waren, lebt in der DDR und weiß, dass es hier nicht hingehört. Es fühlt sich als Schweizerin; geboren im falschen Land.
Elisabeth Scharang
Das Mädchen bewegt sich wie ein Alien auf dem falschen Planeten und mag sich später an keine innigen Freundschaften und Beziehungen auf diesem unwirtlichen Stück Land erinnern. Sie erwägt eine Flucht, verwirft es aus Mutlosigkeit, urteilt später die erwachsene Frau, und stellt schließlich einen Ausreiseantrag in den Westen. Der führt nicht ins Gefängnis der DDR-Keller sondern tatsächlich über die Grenze. Das Leben drüben in der Bundesrepublik ist nur eine Zwischenstation, das weiß das Mädchen. Und spinnt den nächsten Plan, um sich den Schweizer Wiesen zu nähern: Sie bewirbt sich auf einer Artistenschule im Schweizer Tessin; sie lernt den Spagat und viele andere Kunststücke, die aber nichts mit Sprache zu tun haben und für die man auch keine Lesebrille braucht. Aber immerhin: die Schweizer Kühe sind zum Angreifen nahe und die Kontrolle des unwirtlichen Planeten DDR ist weit weg.
Liebe versus Sex
Martina Bauer über Sibylle Bergs Roman „Der Tag, als meine Frau einen Mann fand“
Das Mädchen ist inzwischen erwachsen. Es verdient sein eigenes Geld, mit allem möglichen, das nichts kann, außer die Miete zu bezahlen, und sie hat gelernt, Auto zu fahren. Nach dem Fall der Mauer beschließt sie, als Heldin mit einem geliehen Auto in die frühere Heimatstadt zu fahren – nur eine Runde drehen, nur einmal noch der Vergangenheit den Finger zeigen und es dann endgültig hinter sich lassen, das falsche Leben.
Ein anderer hat es noch eiliger, die Frau überschlägt sich mit dem Auto. Das Leben kann gerettet werden, das Gesicht ist kaputt. Zehn Jahre lang bauen geschickte Arzthände das lange Gesicht der schönen Frau wieder zusammen. Die Kommentare der ZeitungsschreiberInnen über die Frau, als sie später eine bekannte Schriftstellerin ist, kreisen oft um ihr eigenwilliges Äußeres. Ist sie eitel, gar egozentrisch? Sind die schrägen Katzenaugen echt oder doch vom Schönheitschirurgen in diese Lage gesetzt?
Elisabeth Scharang
Auch sonst verwirrt die Frau, die nun eine bekannte Schriftstellerin ist, die Menschen mit der Beschreibung der Welt, in der sie leben. Sie findet Bilder und Worte für Zustände. Sie kocht Gefühle ein wie Marmelade und stellt uns die Gläser auf den Frühstückstisch. Da, schau, das ist Liebe.
Sibylle Berg ist pünktlich und sie begrüßt mich mit einem Lächeln. Die Bar, die um die Mittagszeit meist leer ist, füllt sich mit russischen Touristen und zwei deutschen Ehepaaren, die dem Nieselregen draußen entfliehen und sich Cocktails bestellen, um ihre Stimmung wieder auf Ferienniveau zu bringen. Egal. Wir lassen uns mitten hinein in die Kajütenstimmung der holzvertäfelten Bar.