Erstellt am: 7. 3. 2015 - 14:10 Uhr
Sie nennen es Arbeit
Aus dem Leben der Lo-Fi Boheme
Geschichten aus der deutschen Hauptstadt von Christiane Rösinger
Die erste Kamera in der Geschichte des Films war auf das Werktor einer Fabrik gerichtet, denn für ihren ersten Film hatten die Brüder Auguste und Louis Lumière im März 1895 den Prototypen ihres Kinematographen vor dem Tor der familieneigenen Fabrik in Lyon aufgebaut. Das fünfzig Sekunden lange, in einer einzigen Einstellung gedrehte Werk, zeigt genau das, was der Titel ankündigt: "Arbeiter verlassen die Lumière-Werke"
Das Tor geht auf; Frauen und Männer strömen heraus. Das Tor wird wieder geschlossen. Damals ging es darum zu zeigen, dass die Kamera Bewegungen aufnehmen kann. Farocki und Ehmann nahmen den in einer Einstellung gedrehten Film der Brüder Lumière zum Ausgangspunkt einer Erkundung der Arbeitswelt mit gleichen Mitteln: In über hundert Kurzfilmen, gedreht jeweils in einer Einstellung, wird rund um den Globus Arbeit dokumentiert.
In der Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt (HKW) kann der Besucher zunächst im Halbrund der 14 aufgestellten Monitore von Mexico City, Buenos Aires und Bangalore, Hanoi über Berlin, Kairo, Moskau, Lodz, Rio de Janeiro, Tel Aviv, Lissabon, Hanghzou, nach Boston, Genf und Johannisburg gehen und Arbeiter des jeweiligen Landes beim Verlassen der Fabrik beobachten. Die Werktore sehen überall anders aus, teils erschöpfte, teils lachende Menschen ziehen vorbei, oft sind es reine Frauenbetriebe.
Es sind aber, anders als noch bei Lumière, keine Massen mehr, die aus den Fabriken kommen. Die Automatisierung und Gleitzeit halten den Menschenverkehr an den Toren in Grenzen, es strömt nicht mehr, es tröpfelt nur noch.
Aber während 1895 Frauen, Männer, Menschen mit Fahrrädern, dazwischen springende Hunde, regelrecht aus der Fabrik heraus stürzen, rennen, flüchten, ist es heute weltweit gar nicht mehr so selbstverständlich raus zu kommen. Sicherheitssysteme blockieren, weil Chipkarten nicht funktionieren, öffnen sich die Absperrungen nicht und manche Arbeiterin bleibt vorerst hinter der Absperrung in der Fabrik gefangen.

Magda Kulak
Den Hauptteil der Berliner Schau machen aber Filme aus, die als Ergebnis von Workshops an 15 Standorten in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Goethe-Instituten entstanden sind. Die Herausforderung war dabei, wie man die Choreographie eines Arbeitsablaufes in einer einzigen Einstellung in ein bis zwei Minuten einfangen kann. Die Kamera kann statisch sein, sie kann schwenken oder eine Fahrt machen, Schnitte sind nicht erlaubt.
Es gibt in diesen 15 Städten auf fünf Kontinenten alle Arten von Arbeit, formelle und informelle, wie die des Parkplatzbetreuers und Straßenmusikanten, es gibt Industriearbeit, Büroarbeit, neue und uralte Arbeit: Fischen und Maispflücken, Heiligenfiguren schnitzen, Schattenspiele machen, Diamanten begutachten.
Die Filme zeigen Menschen bei der Arbeit in jeder Form: In Hanoi wird ein Kanal gesäubert, in Genf machen sich Prostituierte an die Arbeit, in Berlin wird ein Pflegebedürftiger versorgt. Eine Sexarbeiterin in Mexiko City gibt einer Nachwuchskraft die Jobbeschreibung Telefonsex durch, in Tel Aviv werden Wasser und Mehl zu Teig verarbeitet.
Tiere spielen dabei weltweit immer noch eine große Rolle. In Bangalore bekommt ein Lastochse neue Hufe, in Lissabon wird ein Pferdezopf geflochten, in der Pferdeklinik Lodz ein Patient intubiert.
Trotz der formalen Einschränkungen kann eine einzige einminütige Einstellung bereits eine ganze Geschichte erzählen, wie die der Katze, die geduldig und angespannt das fachgerechte Häuten eines Ziegenkopfs beobachtet und auf die Abfälle wartet. Oder die der drei Straßenkünstler am Roten Platz, die sich für Geld mit Touristen fotografieren lassen: Während Putin die Akquise übernimmt, wartet der stets jovial und großmütig dreinblickende Stalin mit seinem prächtigen Schnurrbart gelassen auf einem Plastikstuhl, nur Lenin wirkt etwas depressiv und teilnahmslos und kann sich nur mühsam zum Gruppenbild mit Touristen aufraffen.
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Amy van Houten
Es wird viel gebaut und transportiert weltweit, noch öfter wird gewartet oder einfach in der Stadtlandschaft rumgestanden. Manchmal reicht eine Einstellung zur Arbeit für ein ganzes absurdes Theaterstück, wie in Berlin, wo der Bestatter im Haustierkrematorium mit würdevollen Bewegungen und Kerzenleuchter eine quasi-religiöse Zeremonie vornimmt, bevor das tote Tier mittels einer Hebevorrichtung in den Ofenschacht transportiert wird. Oder wenn im Naturkundemuseum eine schläfrige Museumsaufsicht ein Skelett und einen ausgestopften Bären bewacht. Bei all der unterschiedlichen Arbeit kommt eine Arbeit, die doch weltweit so oft verrichtet wird, nicht vor: Hausarbeit. Vielleicht haben die jungen Filmemachern und ihre Mentoren unter Arbeit nur das verstanden, was auch bezahlt wird.
Die Ausstellung stellt keine These auf, klagt keine unmenschlichen Produktionsbedingungen, keine entfremdete, ausbeuterische Arbeit an. Es wird nichts gewertet, jeder Job ist gleich interessant und wird doch überall mir Hingabe verrichtet. Und so kommt es, dass die Betrachterin beim Umhergehen zwischen den aufgespannten Leinwänden, die so angeordnet sind, dass der Blick zwischen verschiedenen Weltgegenden schweifen kann, unversehens in eine eigentümlich schöne, versöhnliche Stimmung gerät. Vielleicht, weil die Ausstellung zeigt, wie vielfältig die menschlichen Gesellschaften und wie ähnlich sich die Menschen weltweit dann doch sind.