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Nina Hochrainer

Sweet Indie Music, Kleinode globaler Alltagskultur, nachhaltiges Existieren. And New York.

22. 1. 2015 - 16:38

Schreckliche, schöne Welt

Die Decemberists haben in die Realität gefunden.

An einem Spätoktobermorgen im Brooklyner Viertel Williamsburg: Ein Straßenmusiker steht neben dem Abgang zum L-Train Metrostop Bedford Station und performed. An der Hausmauer hinter ihm ist ein großes Gemälde aufgesprüht. Ein nicht weiter ungewöhnliches Bild für diese stark frequentierte Hipsterecke.

Doch der Musiker ist Colin Meloy, Sänger der Decemberists, der die neue Single seiner Band akustisch darbietet, und das Gemälde ist das Cover des lang erwarteten, siebten Decemberists-Albums mit dem mauerspruchreifen Titel "What a terrible world, what a beautiful world".

Decemberists Albumcover

Nina Hochrainer

Jeden Tag bin ich während meines New-York-Aufenthalts an diesem übergroßen Albumcover vorbeispaziert. So baut man Erwartungshaltungen auf.

Dieser Tage ist das neue Werk nun erschienen, vier Jahre nach der letzten Veröffentlichung des Quintetts aus Portland, Oregon. Während der offiziellen Bandpause waren die Decemberists zumindest animiert in einer Simpsons-Folge erschienen, einige der Mitglieder hatten sich mit anderen Musikprojekten beschäftigt und Colin Meloy hatte es im zweiten Karriereweg als Schriftsteller mit der Jugend-Fantasyroman-Trilogie "Wildwood" in die literarischen Bestseller-Listen geschafft. Die Billboard-Charts-Spitze, die die Decemberists mit der Vorgängerplatte "The King Is Dead" erobert hatten, war dem Frontmann wohl nicht genug gewesen.

Alltagsgeschichten

Geschichtenerzählen war ja immer schon eine große Stärke des Band-Masterminds – schließlich kennt und schätzt man die Decemberists für ihre elaborierten Konzeptalben und großen thematischen Bögen, die sich – mit Ausnahme der letzten Platte - meist auf historische Ereignisse beziehen oder um Mythen ranken.

Auch wenn das neue Album aufgrund seines Titels wieder Konzeptuelles vermuten lässt, so hat sich doch einiges verändert bei den Decemberists, wie gleich mal im Opener-Song der Hörerschaft klar gemacht wird": "We knew you threw your arms around us, in the hopes we wouldn't change, but we had to change some". Und so hat sich die Gruppe in den Texten weg von den großen Epen und Folkloregeschichten hin zu realen Ereignissen und persönlichen Empfindungen gewandt. Diese schreckliche und zugleich schöne Welt, die im Albumtitel beschworen wird, es ist die unsere, in der wir heute leben. Es ist die Welt, in die man glückselig Kinder hineingebiert, aber auch die Welt, in der so abscheuliche Dinge passieren wie die Schießerei an der Sandy-Hook-Volksschule in Newton, wo 2012 28 Menschen ums Leben kamen. So bezieht sich das reduziert gehaltene, akustische Stück "12 17 12" auf Obamas Rede an die Nation nach dem Massaker, die bei Colin Meloy ein Gefühl der Hilflosigkeit, aber auch Verbundenheit auslöste.

Die Texte sind zwar nach wie vor erzählerisch gehalten, großteils verflogen ist jedoch die shakespeareske Worttheatralik, die im echten Leben und bei Themen wie Familie, Karriere und Älterwerden schlichtweg keinen Platz zu haben scheint. Stattdessen liefert Colin Meloy eine Art Alltagschronik privater Befindlichkeiten und Introspektiven: die Sorge um den Schlaf seines Kindes in dem nach irischem Sauflied klingenden "Better not wake the baby". Die Erkenntnis, dass man seine eigene Identität nicht über eine Liebesbeziehung definieren sollte, in der klassischen Indieballade "Make you better". Oder die Rekapitulation eines misslungenen Urlaubs im sehr gelungenen "Mistral".

Decemberists

Beggars Group

Mitten im Leben: Die Decemberists auf einer rotweißen Stoffplane

Sounds von überall und irgendwann

Auch der Aufnahmeprozess ist diesmal anders abgelaufen. Anstatt wie sonst alles in einem Stück aufzunehmen, haben die Decemberists ihre Lieder ganz entspannt über eineinhalb Jahre hinweg in mehreren Sessions live eingespielt, einige Stücke waren zum Aufnahmezeitpunkt auch schon mehrere Jahre alt. Diese zeitliche Streuung hat dem Sound der Band mehr Vielschichtigkeit verliehen: Nach wie vor dominieren Folk- und Country-Einflüsse, dazu gesellen sich Blues- und Roots-Rock-Anleihen und der "Lake Song" könnte glatt ein verloren gegangenes Nick-Drake-Stück sein.

Was an Streichereinsätzen rausgenommen wurde, wurde an Background-Chören dazugefügt, und zwar in einer derart überbordenden Façon, die manche Liedstellen fast albern anmuten lässt, wie das Stück "Philomena" veranschaulicht.

Diese Stimmungs- und Stilvielfalt mag bei den ersten paar Hördurchgängen gewöhnungsbedürftig sein. "What a terrible world, what a beautiful world" ist aber sicherlich das offenherzigste und emotionalste Album in der Bandgeschichte. Und schließlich sind die Decemberists seit jeher eine sehr eigenwillige, herrlich unzeitgemäße und deswegen auch einzigartige Gruppe, die noch nie eine schlechte Platte veröffentlicht hat und so einiges darf. In anderen Worten: "What a terrible record, what a beautiful record."