Erstellt am: 28. 12. 2014 - 13:28 Uhr
Fünfzehn Filmmomente
Der Tod des Kinos wurde natürlich heuer wieder heftig beschworen. Trotzdem hat sich in der Grauzone von Multiplex-Sälen, noch existierenden Programmkinos, großen und kleinen Festivals, legalen und illegalen Downloads, DVD-Ramschkisten, Blu-ray-Verkäufen und ständig wichtiger werdenden Streamingdiensten 2014 extrem viel getan.
Die Favoriten der FM4-Filmredaktion:
Petra Erdmann:
Maps to the Stars
Tom à la ferme
The Act of Killing
Markus Keuschnigg:
Wie der Wind sich hebt
Maps to the Stars
The Raid 2
Christian Fuchs:
Under The Skin
The Wolf Of Wall Street
Nymphomaniac 1 & 2
Anna Katharina Laggner:
Timbuktu
Le Meraviglie (Land der Wunder)
Ida
Walk of Shame
Erika Koriska:
Boyhood
Tom à la ferme
A Most Wanted Man
Pia Reiser:
American Hustle
Grand Budapest Hotel
Boyhood
Sophie Strohmeier:
Clouds of Sils Maria
The Duke of Burgundy
Maps to the Stars
Zwar verdunkelte sich der Horizont regelmäßig, wenn etwa einstige Regiegrößen im aktuellen Hollywood chancenlos scheinen oder viele faszinierende Streifen trotz Starbesetzung nicht mehr den Weg auf heimische Leinwände fanden. Aber der prognostizierte Untergang der zumindest für mich essentiellsten Kategorie von Filmen - mittelteuren Werken, die kreative Wagnisse eingehen und dennoch ihr Publikum verführen wollen - lässt glücklicherweise noch auf sich warten.
Filmladen
Gegen Logik-Junkies und Story-Kleingeister
Es herrscht weiterhin quirliges Leben auf der Leinwand. Selbst die beliebte These von den Qualitätsserien, die den Spielfilm längst kulturell überholt haben, wurde nicht mehr von sämtlichen Liebhabern bewegter Bilder nachgeplappert. Denn obwohl "True Detective" & Co. auch beim Schreiber dieser Zeilen für nachhaltige Euphorie sorgten und mit moralischer Ambivalenz punkteten, gibt es noch immer Ideen und Ansätze, die auch beim aufgeschlossensten Kabelsender keinen Platz finden. Oder die nicht in den Rahmen sogar progressiver Serienformate passen.
Nicht nur aus finanziellen Gründen. Auch deshalb, wie etwa Bret Easton Ellis in seinem phänomenalen Podcast betonte, weil es etliche bemerkenswerte audiovisuelle Kompositionen einfach nicht verdienen, in ein strenges narratives Korsett gepresst zu werden. Ausgerechnet der erfolgreiche Romanautor hetzte als Filmfan leidenschaftlich gegen allzu konventionelle Erzählstrukturen und die dazugehörigen Logikjunkies, Hobbydramaturgen und besserwisserischen Story-Kleingeistern.
Seinem Grundtenor kann ich mich nur anschließen. Manche intensiven Emotionen brauchen kaum Worte. Gewisse fesselnde Dialoge brennen sich wiederum auch ohne ausgeklügelten Kontext ein. Das Kino soll die rauschhafte Überwältigung zelebrieren, wie es auch das Bruchstückhafte und nicht fertig Auserzählte feiern soll. Es muss sich der ausufernden Form ebenso hingeben wie der angedeuteten Skizze.
Was zählt, ist nicht immer die Summe der Teile, sondern der betörende, verstörende Augenblick, der gloriose Moment. Bitteschön, hier eine sehr persönliche Auswahl von Lieblingsszenen 2014.
Raumflüge, Wutausbrüche und Monsterkämpfe
Das Dylan-Thomas-Zitat in "Interstellar" (Christopher Nolan 2014)
Die künstlerischen Triebwerke stockten manchmal bei Christopher Nolans Ausflug ins All. Aber auch wenn zuviele Stränge aufeinanderprallten und der Film kein Ende finden konnte: Was für ein herrliches Pathos durchzog manche Szenen. Vergesst doch die Quantenphysik, möchte man Nörglern zurufen, es geht hier um Sehnsucht. Nach dem Anderem, dem Geheimnis, den Sternen. Wenn zum Start der Raummission der Poet Dylan Thomas zitiert wird und sein "Do Not Go Gentle Into That Good Night" sich mit dem Bombastscore von Hans Zimmer vermischt, weiß man: Genau für solchen betäubenden Zauber wurde das Blockbusterkino erfunden.
Das tragische Ende einer Patchwork-Familie in "Boyhood" (Richard Linklater 2014)
Der beinahe dreistündige Erzählstrom von Richard Linklaters zurecht gefeiertem Leinwandexperiment, das dem Aufwachsen eines texanischen Jungen folgt, lässt sich kaum auf eine einzelne Szene runterbrechen. Aber der Streit am Esstisch des Stiefvaters, als dieutbürgerliche Idylle massive Risse bekommt und die Gewalt in den verträumten Film eindringt, ist dann doch besonders gespenstisch.
UPI
Der überfällige Einsatz des Atomstrahls in "Godzilla" (Gareth Edwards 2014)
So langsam wie sein Titelheld bewegte sich auch dieses Hollywood-Remake vorwärts. Während Veteranen bei dem erzählerischen Zeitlupentempo an Tierhorror-Klassiker der 70er denken mussten (Hallo "Jaws"!), schauten jüngere Kinobesucher wohl auf die Uhr. Im letzten Drittel wurde sogar ich als Überfan etwas unruhig. Aber dann setzt die gewaltigste Monsteraction der Gegenwart ein. Und nach dem ewigen Vorspiel, verzeiht mir die schlüpfrige Pornometapher, gibt es dann auch noch den Moneyshot. Was für manche das Laserschwert von Obi-Wan bedeutet, ist für mich Godzillas Atomstrahl. Ich weinte fast vor Freude im IMAX-Saal.
Beziehungsabgesänge und Generationskrisen
Das trügerische Schlussbild von "Gone Girl" (David Fincher 2014)
Natürlich gibt es an dieser Stelle auch beim Jahresrückblick keine groben Spoiler. Nur soviel: David Finchers Bestsellerverfilmung beginnt und endet mit dem selben Bild trügerischer Ruhe. Zwischen diesen beiden Close-Ups von Rosemunde Pike liegt der eisigste Abgesang an die Ehe und jede Art von romantischer Projektion in Thrillerverpackung: Dein Partner, das gänzlich fremde Wesen.
Centfox
Die "Moon Song"-Montage in "Her" (Spike Jonze 2013)
Noch so ein Streifen, der von abgebrühten Zynikern als rosarote Bonbonschachtel im Filmformat abgetan wurde. Dabei gab es kaum beklemmendere Dystopien als Spike Jonzes Liebesgeschichte von einem Mann mit seinem Betriebssystem. Zumindest ich für meinen Teil finde, dass Endzeitkämpfe mit Zombies mehr menschliche Perspektiven bieten als die absolute Traurigkeit von "Her": Alleine zuhause zu sitzen und sich von seinem chicen Gadget ein Lied singen zu lassen. Auch wenn die Stimme wie Scarlett Johannsen klingt. So und jetzt könnt ihr wieder mit dem iPhone schlafen gehen.
Die Film-im-Film-Szene in "Clouds of Sils Maria" (Olivier Assayas 2014)
Eine Schauspieldiva schaut sich mit ihrer Assistentin in einem Schweizer Kino einen Comic-Blockbuster an. Während die ältere Frau (Juliette Binoche) bei so viel Eskapismus skeptisch abwinkt, ist ihr junges Kontra (Kristen Stewart) Feuer und Flamme. Olivier Assayas vervollständigt den Konflikt der Generationen mit einem ganz jungen Hollywoodstar (Chloë Moretz) auf der Leinwand, parodiert Marvel-Blockbuster wie spröden Kunsternst und lässt den Zuschauer selber entscheiden, wo er steht. Im besten Fall wie der Regisseur: zwischen den Stühlen.
Filmladen
Schreiduelle, Schweigen und Schusswechsel
Bonusszenen:
Der Abstecher zu einem nächtlichen Mord-Tatort in "Nightcrawler" (Dan Gilroy 2014)
Der wahnwitzige Nachspann von "22 Jump Street" (Phil Lord & Christopher Miller 2014)
Das ve
rheerende Kanto-Erdbeben in "Kaze Tachinu - Wie der Wind sich hebt" (Hayao Miyazaki 2013)
Die Autoverfolgungsjagd durch Paris in "Lucy" (Luc Besson 2014)
Der Besuch in der KZ-Gedenkstätte in "Finsterworld" (Frauke Finsterwalder 2013)
Will Ferrells Kurzauftritt in "The Lego Movie" (Phil Lord, Christopher Miller 2014)
Der gespenstische Schul-Wagon in "Snowpiercer" (Joon-ho Bong 2013)
Die Blinden-Sequenz in "Anchorman 2" (Adam McKay 2013)
Die lakonische Schießerei im Friseursalon in "Black Coal, Thin Ice" (Yi'nan Diao 2014)
Vampire treffen auf Werwölfe in "What We Do In The Shadows" (Jemaine Clement & Taika Waihiti 2014)
Der Freudenausbruch von Julianne Moore in "Maps to the Stars" (David Cronenberg 2014)
Natürlich kann man den Wahnsinn, der in diesem härtesten aller Hollywood-Abgesänge Methode hat, auf die (Alb-)Traumfabrik und ihre neurotische Bewohner schieben. Wer aber ehrlich ist, wird im sarkastischen Kriegsbericht über den Untergang von Moral, Ethik und Menschlichkeit wohl eine universelle Gegenwartsstudie erkennen. Gruseligster Moment: Julianne Moores Figur, ein abgehalfterter Altstar, erfährt, dass das Kind einer Konkurrentin tödlich verunglückte. Und freut sich einen Haxen aus, weil sie jetzt dafür die Traumrolle bekommt. That’s Life.
Die melancholische Dinner-Sequenz in "Grand Budapest Hotel" (Wes Anderson 2014)
Immer dann, wenn das Geschehen droht, zu geschmäcklerisch, pittoresk oder putzig zu werden, nimmt Wes Anderson in seinem heurigen Wunderwerk die richtige Abzweigung. Und er setzt, mitten im zuckerlfarbenen Spielzeugland von Zubrowka, seine sinistren Geheimwaffen ein: Den drohenden Faschismus, den Tod, die Wehmut. Deshalb sind es, trotz sich grandios vor der Slapstick-Ära verbeugenden Verfolgungsjagden, die melancholischen Momente im Grand Budapest Hotel, die nachhaltig unter die Haut gehen.
Centfox
Der Zeitlupen-Shootout in "Das finstere Tal" (Andreas Prochaska 2014)
Der Western lebt, endlich auch wieder in Europa, wo er ja eine prachtvolle Tradition hat. Neben dem dänischen Auswandererdrama "The Salvation" verzückte auch Andreas Prochaska, Österreichs ernsthaftester Genre-Handwerker, mit seiner alpenländischen Variante eines Kuhbuben-Dramas. Wenn im Showdown im Südtiroler Schnee Hollywood-like gestorben und im Dialekt geflucht wird, wenn dazu heimischer Indierock Blutbäder á la Sam Peckinpah untermalt, eröffnen sich neue Blickwinkel auf alte Szenarien. Rauer Realismus und rauschhafte Überhöhung kollidieren elektrisierend.
Im Keller, im All, in Ekstase
Das Großwildjäger-Ehepaar in "Im Keller" (Ulrich Seidl 2014)
Unterirdische Refugien voller Nazi-Reliquien, Sadomaso-Rituale in ausgebauten Heizungskellern, lebensechte Babypuppen, die im Souterrain geheim gestreichelt werden. Ulrich Seidl lässt in seiner neuen Studie der Einsamkeit und Leere made in Austria wenig aus und überlässt nichts dem Zufall. Jeder findet in den kunstvoll stilisierten Tristesse-Tableaus wohl andere Momente eindringlich. Mir ging das ältere Paar, das stolz seine Sammlung an ausgestopften Wildtieren präsentiert, alle bei der Safari eigenhändig erlegt, seltsam nahe. Fast konnte ich den Hobbyzoo-Mief riechen.
Stadtkino Verleih
Der finale Dance-Off in "Guardians Of The Galaxy" (James Gunn 2014)
Marvels jüngster Box-Office-Streich, basierend auf einem Comic, das nur Nerds kennen, die man gar nicht kennen möchte, erwies sich als prall gefüllte Kino-Wundertüte. Neben dem knallbunten Weltall, das an Groschenroman-Sci-Fi erinnerte und den herrlichen 80ies-Songs, die aus antiken Kassettendecks ertönten, begeisterte vor allem die Botschaft des Films. Die Guardians, allen voran ihr Anführer Starlord, stehen für exzessive Lässigkeit statt üblich martialischer Superhelden-Verbitterung. Da passt es dann auch perfekt, dass seine Comedy-Heiligkeit Chris Pratt den Oberbösen nicht mit Waffengewalt besiegt. Sondern mit einem Tanz auf den Spuren von "Footloose".
Die Bach’sche Polyphonie in "Nymphomaniac, Teil 1" (Lars von Trier 2013)
Humor gab es ja oft in den Filmen von Lars von Trier, wenn auch immer rabenschwarz gefärbt. Im ersten Teil seiner monumentalen Unterleibs-Saga vermeint man in manchen Szenen aber zusätzlich noch eine gänzlich unerwartete Leichtigkeit zu spüren. Wenn dann die Fabel von der promiskuitiven Joe gegen Ende zu einer verschwitzten Polyphonie der Liebhaber mutiert, frei nach Johann Sebastian Bach, glaubt man tatsächlich eine sexuelle Utopie aufflackern zu sehen. Im zweiten Teil ist dann allerdings gleich wieder Schluss mit lustig, man hat ja als dänischer Vorzeigepessimist einen Ruf zu verlieren.
Filmladen
Brechende Knochen, derangierte Körper, entfremdete Seelen
Der Gefängnisaufstand in "The Raid 2: Berandal" (R: Gareth Evans 2014)
Was wurde eigentlich aus dem Actionkino? Seine einstigen Heroen schwankten und torkelten, trotz Zirkeltraining und Steroid-Spritzen im reifen Alter. Schwarzenegger, Stallone oder auch der jüngere Statham enttäuschten, alleine oder im "Expendables"-Kollektiv. Das Genre selbst aber wurde, dank eines jungen britischen Regisseurs, auf furiose Weise wiedergeboren. Wirkte "The Raid" noch wie eine virtuose Martial-Arts-Fingerübung, ließ das Sequel den Atem stocken. Es ist schwer, eine Szene aus diesem Nonstop-Wahnsinn auszuwählen, aber die Schlammschlacht im Gefängnishof ist definitiv ein Massenfight für die Ewigkeit.
Der kleine Arzneimittelmissbrauch in "The Wolf Of Wall Street" (Martin Scorsese 2013)
Wie so viele großartige Streifen ist auch dieses vielschichtige Meisterwerk bereits zur Jahreswende angelaufen und deshalb von vielen längst abgehakt. Dabei ist Martin Scorseses bester Film seit Ewigkeiten ein einziges Plädoyer für ein Kino, dass sich aus schnöden Storytelling-Korsetten befreit. Wild, wuchernd, exzessiv gibt sich das Wallstreet-Epos, seinen bedröhnten Protagonisten folgend, in deren rücksichtslose Position uns der Regisseur zwingt. Ein tragikomisches Highlight jagt dabei das andere. Wenn Leonardo DiCaprio und Jonah Hill allerdings zu längst abgelaufenen Quaaludes-Pillen greifen und die Motorik nachlässt, ist die Filmgeschichte um eine gigantisch komische Szene reicher.
UPI
Und was sind eure Film-Momente des Jahres?
Der Besuch im schwarzen Raum in "Under The Skin" (Jonathan Glazer 2013)
Es war heuer, würde ich als Fazit festhalten, ein Filmjahr im Zeichen des Sich-Nicht-Mehr-Spürens. Ob in "Nymphomaniac", "Maps to the Stars" oder "Her", in "Gone Girl", "Im Keller" oder "The Wolf Of Wall Street", überall regierte die Entfremdung von der Welt, dem Partner, dem eigenen Körper. Am radikalsten formulierte das Abgetrenntsein von Emotionen aber Jonathan Glazer. Der schickte Scarlett Johannsen als Außerirdische nach Schottland, auf Männerfang. Unberührt von jeder menschlichen Regung lockt sie die vermeintlichen Sexpartner in ihr Haus. Dort, in einem schwarzen Raum, treffen sich Hyperkunst und Horrorschocks, entkleidet sich ein Superstar für die Avantgarde, lauert der Geist von Stanley Kubrick ebenso wie eine mögliche Zukunft des Kinos.